Donnerstag, Mai 02, 2024

Die Wende zur Industrie 5.0 steht bevor. Sie soll innovativer, resilienter und nachhaltiger produzieren und den Menschen und seine Fähigkeiten wieder in den Mittelpunkt rücken. 

Das Verhältnis des Menschen zur Maschine war seit jeher ambivalent. Manche Ängste und Vorbehalte waren durchaus berechtigt, wie etwa die Massenentlassungen im Zuge der Mechanisierung im 19. Jahrhundert zeigten. Oftmals blieben die Bedürfnisse der Menschen weitgehend ausgeblendet. Das Schlagwort Industrie 4.0 läutete eine »neue industrielle Revolution« ein – Big Data, Vernetzung und digitalisierte Prozesse stellten enorme Potenziale in Aussicht. Alles sollte schneller, transparenter und vor allem kostengünstiger ablaufen. Und möglichst auch ohne Menschen.

Kaum haben wir uns damit abgefunden, dass der Mensch den allgegenwärtigen Algorithmen in allen Belangen unterlegen ist, bringt die Europäische Kommission nun eine Erweiterung des Begriffs ins Spiel. Mehr eine Kurskorrektur als eine neuerliche Revolution – insofern wäre die Bezeichnung 4.1 treffender –, betont die Vision einer Industrie 5.0 stärker als bisher den Faktor Mensch. Sie umschreibt eine Produktionsumgebung, in der Menschen mit Robotern bzw. intelligenten Maschinen zusammenarbeiten.

Übernahmen Roboter bisher vorwiegend gefährliche, monotone oder körperlich fordernde Tätigkeiten, sehen moderne Arbeitsdesigns vor, die kognitiven Rechenkapazitäten mit menschlicher Intelligenz und Kreativität zu verknüpfen. »In der Industrie 5.0 wird die Fabrik zu einem Ort, an dem kreative Menschen arbeiten, um Mitarbeiter*innen und Kund*innen eine möglichst individuelle Erfahrung mit Betonung auf dem menschlichen Aspekt zu bieten«, sagt Esben Øster-gaard, CTO von Universal Robots. 

Die Automatisierung von Produktionsprozessen begann im 18. Jahrhundert und erreicht derzeit mit der Einbindung von Robotern bzw. intelligenten Maschinen eine neue Phase. 

Kein realistisches Ziel

Gehen in den Fabriken also doch nicht so bald die Lichter aus? Die Begriffe »Dark Factory« oder »Lights-off-Factory« rufen unweigerlich utopische Bilder von riesigen menschenleeren, unbeleuchteten Produktionshallen hervor, in denen von künstlicher Intelligenz gesteuerte Roboter und Maschinen selbsttätig Arbeiten verrichten. Mitarbeiter*innen sind nicht mehr erforderlich, alles läuft auch ohne menschliches Zutun wie am Schnürchen.

Solche vollständig automatisierte Fabriken gibt es tatsächlich bereits, etwa die chinesischen Werke des iPhone-Fertigers Foxconn in Shenzhen und Zhengzhou. Vor allem in jenen Bereichen, wo das Risiko von Kontamination möglichst minimiert werden soll – etwa bei der Herstellung von Lebensmitteln, Medikamenten oder elektronischen Komponenten –, ist menschliche Interaktion kaum erwünscht. Wirklich rentabel sind jedoch nur hohe Stückzahlen mit geringer Variabilität – ein Widerspruch zum Trend der kleinen Losgrößen mit Abstimmung auf individuelle Kundenwünsche.

Die völlig autonom funktionierende Fabrik der Zukunft ist schon aus wirtschaftlichen Überlegungen für die meisten Fertigungsunternehmen kein realistisches Ziel, meint Andreas Kugi, Professor für kom­plexe dynamische Systeme an der TU Wien und Co-Leiter des Centers for Vision, Automation & Control am AIT Austrian Institute of Technology: »Je höher man den Automatisierungsgrad treibt, umso mehr Ausnahmefälle muss man berücksichtigen und umso aufwendiger wird es.«

So gesehen erstaunt es wenig, dass selbst Tesla-CEO Elon Musk 2018 die »exzessive Automatisierung« in seinen Produktionsbetrieben als Fehler bezeichnete. Ob die wiederkehrenden Qualitätsprobleme des Teslas daher rühren, ließ er offen. Maschinen arbeiten präziser und konsistenter, aber sie erledigen nur Arbeiten, die ihnen zuvor beigebracht wurden. Menschen erfassen hingegen auch neue Situationen und können ohne Vorgabe Lösungsansätze entwickeln. 

Tesla war eines der ersten Unternehmen, die ihre Produktion vollständig automatisierten. Ein Fehler, wie CEO Elon Musk inzwischen einräumte. (Bild: Evannex)

Besondere Fähigkeiten

Der Mensch und seine besonderen Fähigkeiten wurden lange unterschätzt. Sein kognitives Verständnis von Situationen, seine Fingerfertigkeit, Flexibilität, Kommunikationsfähigkeit, Problemlösungskompetenz und Kreativität lassen sich auch durch modernste Technologien nicht ersetzen. Roboter werden dank künstlicher Intelligenz zwar immer klüger, ihnen fehlt aber jegliches Verständnis von sozialen Normen – das macht die Zusammenarbeit mitunter so schwierig.

Industrie 5.0 umfasst jedoch noch viel mehr. Sie ist die Vision einer Güterproduktion, die die begrenzten Ressourcen respektiert. Profitmaximierung tritt zugunsten von Umwelt und Gesellschaft in den Hintergrund. Der Mensch und seine Kollaboration mit intelligenten Robotern rückt in den Fokus. »Bei der Industrie 5.0 nutzt man das, was technisch möglich ist und im Rahmen von Industrie 4.0 entwickelt wurde und wird. Man setzt die Technologien aber auf eine menschenzentrierte, nachhaltige und resiliente Weise ein«, sagt Robotik-Experte Kugi. »Wir wollen die Stärken von beiden – Mensch und Maschine – nutzen und sinnvoll verbinden.« Zur Etablierung kollaborativer Systeme sei es nötig, die Schnittstellen so zu gestalten, dass sie auf die menschlichen Bedürfnisse zugeschnitten sind. Roboter sollen Menschen unterstützen, nicht verdrängen. 

Andreas Kugi, AIT: »Wir wollen die Stärken von beiden – Mensch und Maschine – nutzen und sinnvoll verbinden.« (Bild: AIT)

Der Mensch im Mittelpunkt

Um dem Thema »Human Centered Innovation« in der Forschung und Technologieentwicklung mehr Gewicht zu geben, hat die EU eine eigene Initiative ins Leben gerufen. Auch beim europäischen Green Deal und der EU-Digitalisierungsstrategie spielen die Prinzipien der Industrie 5.0 eine zentrale Rolle.

Soll die Digitalisierung der Produktion einen echten Mehrwert generieren, reicht die bloße Vernetzung der Maschinen nicht aus. Es braucht das Wissen der Fachkräfte, um Prozesse neu zu definieren und Optimierungspotenzial zu erkennen. Die Basis liefert die Analyse produktionsrelevanter Kennzahlen, die mit Hilfe moderner IoT-Technologie generiert werden. Aber entscheidend für ein verbessertes Zusammenspiel von Maschinen, Materialien, Werkzeugen und den Mitarbeiter*innen selbst wird die Entwicklung eines grundsätzlichen Konzepts sein. In einer menschenzentrierten Produktion wird der Blick auf die User-Experience gerichtet.

»Für uns ist der Mensch ein Qualitätsparameter: Wenn der Mensch mit einem Gerät nicht zurechtkommt, kann es keine gute Qualität haben«, erläutert Manfred Tscheligi, Professor an der Universität Salzburg und Leiter des AIT Centers for Technology Experience. »Wir sind überzeugt, dass durch Experience geleitete Innovationen und neue Wege der Interaktion zwischen Mensch und Maschine zentrale Bausteine für innovative und erfolgreiche Technologien sind.«

Fehler der Vergangenheit

Das Upgrade zur Industrie 5.0 legt gleichzeitig Versäumnisse der Vergangenheit offen. Mit der Fokussierung auf Effizienzsteigerung und Rationalisierung dienten technische Lösungen häufig dazu, anderen Problemen aus dem Weg zu gehen. Schwächen in den Prozessen verschwinden jedoch nicht durch Digitalisierung. Das zeigt sich besonders in den Beziehungen zu Kund*innen und Lieferant*innen, wo die menschliche Komponente lange Zeit außer Acht gelassen wurde. Technologieexperte und Report-Blogger Mario Buchinger begrüßt deshalb das unter dem Label Industrie 5.0 gestartete Umdenken: »Aktivitäten rund um Industrie 4.0 haben nicht selten zu völligen Irrwegen und mitunter auch Katastrophen geführt. Man hat digitale und vernetzte Technologien eingesetzt, ohne die tatsächlichen Kundenbedürfnisse, die immer emotionaler Natur sind, und die dafür notwendigen Lösungen und Prozesse zu verstehen und zu hinterfragen.«

Die Industrie hat in den vergangenen Jahren einen tiefgreifenden Wandel erlebt, der eng mit der Einführung disruptiver Technologien wie künstliche Intelligenz, 3D-Druck und Blockchain verbunden ist. Die Transformation der Wirtschaft schreitet ungeachtet der Neuausrichtung voran. Das grundsätzliche Bekenntnis zur Robotisierung bleibt auch in einer Industrie 5.0 bestehen, die Industrie strebt aber nach einer Balance zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Zielen.

Die Mitarbeiter*innen rücken wieder in die Mitte des Produktionsprozesses – in welcher Rolle, wird sich erst zeigen. Für rein überwachende Aufgaben ist der Mensch erfahrungsgemäß weniger geeignet, auch die Kreativität und Innovationsfreude ist nicht bei allen so ausgeprägt, wie es sich Führungskräfte wünschen. In einer Gesellschaft, in der jede und jeder die Möglichkeit eines erfüllten Arbeitslebens bekommt, sind auch die Unternehmen gefordert, die unter diesen Prämissen neu justiert werden müssen. 


Das EU-Programm »Industrie 5.0«

Das Whitepaper »Industry 5.0 – Towards a sustainable, human centric and resilient European industry« fasst die Ergebnisse zweier virtueller Workshops zusammen, die im Juli 2020 stattfanden. An diesen Diskussionen nahmen Forschungs- und Technologieorganisationen sowie Finanzierungsinstitutionen aus ganz Europa teil. 
Einigkeit bestand vor allem hinsichtlich der Notwendigkeit, soziale und umweltbezogene Schwerpunkte der Europäischen Union besser in technologische Innovation zu integrieren.

Arbeiter*innen im Foxconn Technology Park in Shenzen, China. (Bild: VCG)

Das Wachstums- und Entwicklungsmodell stützt sich auf drei Grundpfeiler:

1. Nachhaltigkeit: Die Entwicklung von Produktionssystemen, die erneuerbare Energien nutzen, ist eine der Anforderungen von Industrie 5.0. Die Europäische Kommission gibt das Ziel vor, die CO2-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent zu reduzieren. Aus diesem Grund empfiehlt sie die Entwicklung von Kreislaufprozessen, in denen natürliche Ressourcen wiederverwendet und recycelt, Abfälle reduziert und die Umweltauswirkung minimiert werden.

2. Fokus auf den Menschen: Industrie 5.0 stellt den Menschen in den Mittelpunkt des Produktionsmodells. Die Prämisse ist eindeutig: Statt uns zu fragen, was wir mit den neuen Technologien tun können, sollten wir uns überlegen, was die Technologie für uns tun kann. Außerdem bestätigt dieser sozialere und menschlichere Blickwinkel, dass Nutzung von Technologie nicht die Grundrechte von Arbeiter*innen verletzen darf, wie deren Recht auf Privat­sphäre, Autonomie und Menschenwürde.

3. Resilienz: Resilienz ist zu einem Schlüsselfaktor beim Kampf gegen die Covid-19-Pandemie geworden. Geopolitische Veränderungen und andere Krisen legen die Anfälligkeit unserer Industrien offen. Die Fähigkeit, sich an widrige Situationen anzupassen und daraus positive Ergebnisse erzielen zu können, ist deshalb eine notwendige Voraussetzung.

Innerhalb des technologischen Rahmens definierte die Europäische Kommission sechs Schlüsselfaktoren, um die Industrie 5.0 voranzutreiben:

  • Individualisierte Interaktion zwischen Mensch und Maschine
  • Bioinspirierte Technologien und intelligente Materialien
  • Digitale Zwillinge und Simulation
  • Übertragungs-, Speicherungs- und Analysetechnologien
  • Künstliche Intelligenz
  • Technologien für Energieeffizienz, zur Nutzung erneuerbarer Energien, Speicherung und Autonomie.

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