Montag, Dezember 02, 2024
AMS-Vorstand Herbert Buchinger im Interview über optimistisch-realistische Erwartungen, den sinnlosen Kampf um todgeweihte Arbeitsplätze und den begrenzten Handlungsspielraum der Politik.

(+) plus: Im Vergleich zum Vorjahr sind die Arbeitslosenzahlen im Juli und August konstant um 30 Prozent höher. Die Anzahl der Menschen in Schulungen ist um 42 Prozent gestiegen. Was überwiegt: Frustration darüber, dass über 300.000 Personen in Österreich ohne Arbeit sind, oder Erleichterung darüber, dass der freie Fall gestoppt scheint?
Herbert Buchinger: Keines von beiden trifft zu. Die Zahlen liegen exakt im Rahmen der Erwartungen. Es haben sich weder die Ankündigungen einer deutlichen Verschärfung der Situation am Arbeitsmarkt bewahrheitet noch haben diejenigen Recht behalten, die mit einem Aufwärtstrend im zweiten Halbjahr 2009 gerechnet haben. Der Fall wird nicht so tief sein, wie die Pessimisten erwartet haben, aber länger dauern, als die Optimisten erhofft haben. Die Krise nimmt eindeutig einen U-förmigen Verlauf.

(+) plus: Nur auf den Arbeitsmarkt bezogen: Wo in dieser U-Form befinden wir uns derzeit?
Buchinger: Leider erst im ersten Drittel der Seitwärtsbewegung. Ökonomisch wird es deutlich früher wieder aufwärts gehen, aber am Arbeitsmarkt ist vor 2013 mit keiner entscheidenden Trendwende zu rechnen. Ehrlicherweise rechnen wir erst 2014 mit einem Rückgang der Arbeitslosigkeit.

(+) plus: Welche Branchen trifft es am härtesten und wo erkennen Sie ein gewisses Maß an Krisenresistenz?
Buchinger: Es sind nicht alle Branchen gleich betroffen. Man kann eigentlich auch nicht von der einen Krise sprechen, sondern von verschiedenen Krisen. Es ist eine Krise bestimmter Branchen, während andere boomen. Auch in den betroffenen Branchen sind die Auswirkungen nicht gleich. Es gibt Unternehmen, die anpassungsfähiger und flexibler sind und die Krise deutlich rascher überwinden als andere. Das sind in der Regel kleine und mittlere Betriebe, vor allem Familienunternehmen. Die großen Konzerne, speziell in der Automobilindustrie, können die Krise nur durch massive Investitionen in Forschung und Entwicklung überwinden. Eine automatische Erholung mit den bestehenden Produkten wird es nicht geben. Die Krise beschleunigt auch den Strukturwandel, speziell die negativen Seiten des Wandels. Vor allem in Bereichen wie eben Automotive oder Maschinenbau werden viele Jobs auch endgültig verloren gehen.

(+) plus: Dennoch wurde im oberösterreichischen Wahlkampf der »Kampf um jeden Arbeitsplatz« ausgerufen. Ist es arbeitsmarktpolitisch sinnvoll, um todgeweihte Arbeitsplätze zu kämpfen?
Buchinger: Als Industrieland Nummer eins ist Oberösterreich sicher ein spezifischer Fall. Hier stellt sich die Situation etwas anders dar. Jede Umstrukturierung braucht Zeit und da muss man sich natürlich Überbrückungsmaßnahmen überlegen. Die Leute werden ja nicht besser qualifiziert, wenn sie arbeitslos sind. Wenn die Überbrückungsphasen mit Fortbildungsangeboten kombiniert werden, dann ist es auch sinnvoll, um jeden Arbeitsplatz zu kämpfen. Keinen Sinn macht es, Arbeitsplätze ohne Zukunft zu sichern.

(+) plus: Es wird aber kaum einen Politiker geben, der im Wahlkampf offen davon spricht, dass es für bestimmte Branchen oder Arbeitsplätze keine Zukunft gibt. Vor allem dann nicht, wenn es sich um personalintensive Branchen handelt.
Buchinger: Wir wollen die Politiker nicht überfordern. Die Politik ist auch nur ein Abbild der Gesellschaft. Was nicht im Bewusstsein der Bevölkerung ist, kann auch nicht sehr tief im Bewusstsein der Politiker verankert sein. Es liegt an der Wissenschaft, an Experten und an Institutionen wie uns, Informationen zu liefern und ein Bewusstsein zu schaffen, das der Politik Handlungsspielraum ermöglicht. Und natürlich müssen Alternativen angeboten werden, die den Verlust von Arbeitsplätzen kompensieren können. Ein gutes Beispiel ist die Textillösung Ost in den 70er-Jahren. Da wurde eine gesamte Industrie innerhalb von fünf Jahren niedergefahren. Trotzdem hat es keine sozialen Unruhen gegeben. Die Gewerkschaften haben sogar mitgezogen. Einfach aus dem Grund, weil es bei Wachstumsraten von sechs, sieben Prozent kein Problem war, Alternativproduktionen anzubieten. Das ist heute natürlich deutlich schwieriger.

(+) plus: Können Arbeitszeitverkürzungen und Frühpensionen ein Ausweg aus der Misere sein?
Buchinger: Definitiv nein, das würde völlig in die falsche Richtung gehen. Unser Problem ist nicht das Arbeitskräfteangebot. Das ist sogar rückläufig. Unser Problem ist vielmehr die Nachfrage. Mit enorm teuren, aber ausschließlich angebotsdenkenden Aktionen nimmt man sich aufgrund der enormen Kosten jeden Spielraum, um auf der Nachfragseite Impulse zu schaffen.

(+) plus: Es gibt viele Verlierer der Krise, wo sitzen die Gewinner?
Buchinger: In den Branchen Gesundheit, Soziales, Bildung oder Kultur. Auch der Fremdenverkehr zeigt sich erstaunlich robust. Es gibt zwar keine Zuwächse, aber die Stabilität in Vergleich zu den Rekordjahren der Vergangenheit ist schon bemerkenswert. Auch für den Winter ist die Buchungslage gut. Allerdings befürchten einige, dass der Preisverfall bei den Fernreisen den Inlandstourismus stärker konkurrenzieren könnte. Aber aktuell ist davon noch nichts zu merken.

(+) plus: In vielen Unternehmen herrscht immer noch großer Optimismus, in anderen wird schon der ökonomische Weltuntergang ausgerufen. Wie lautet Ihre Einschätzung für die unmittelbare Zukunft?
Buchinger: Optimistisch-realistisch. Als Arbeitsmarktpolitiker ist es meine Aufgabe, arbeitslos gewordenen Menschen einen Job zu vermitteln und ihnen den Glauben zu geben, dass es sich bei der Arbeitslosigkeit um ein vorübergehendes Phänomen handelt. Klar ist aber, dass die Bedingungen, unter denen arbeitslos gewordene Menschen in Zukunft einen Job suchen müssen, nicht besser, sondern schlechter werden.

(+) plus: Wie werden die Arbeitslosenzahlen in einem Jahr aussehen?
Buchinger: Es ist aus heutiger Sicht davon auszugehen, dass Ende August 2010 40.000 bis 60.000 Personen mehr arbeitslos sein werden als im August 2009.

(+) plus: Wird auch die Zahl der Personen in Schulungen steigen?
Buchinger: Nein. In diesem Bereich ist vorläufig der Plafond erreicht. Das ist vor allem eine finanzielle Frage. Heuer hat der Bund hier einiges getan. Im nächsten Jahr wird das Budget von 1,005 Milliarden Euro auf 1,022 Milliarden Euro steigen. Das deckt die Mehrkosten, lässt aber keine großen Sprünge zu.

(+) plus: Viele der neuen, zukunftsfähigen Jobs sind hoch qualifizierte Jobs. Aber nicht jeder ist Raketenwissenschafter. Hat das AMS überhaupt realistische Chancen, die Menschen fit für neue Berufe zu machen?
Buchinger: Wir können die Qualifikation der Menschen nicht spürbar erhöhen, aber wir können sie verändern. Unsere Kurse dauern in der Regel drei bis sechs Monate. In dieser Zeit erwerben die Teilnehmer eine Zusatzqualifikation. Das genügt in vielen Fällen auch. Denn auch der System- und Strukturwandel läuft nicht im Zeitraffer ab. So schaffen etwa auch die vielzitierten Green Technologies nur wenig völlig neue Berufe, aber in bestehenden Berufen neue Qualifikationsnotwendigkeiten.

(+) plus: Um mit den sich ändernden Qualifikationsanforderungen mithalten zu können, müssen sich auch die Kursinhalte laufend ändern. Wie lang ist die Reaktionszeit des AMS?
Buchinger: Im Schnitt zwischen ein und drei Jahren. Unter einem Jahr ist es sehr schwierig. Denn es müssen nicht nur die Curricula geändert, sondern auch Ausschreibungen gemacht werden. Im Gegensatz zu früher gibt es heute keine Fördervereinbarung mit unseren Schulungspartnern, sondern knallharte Werkverträge. Es geht heute mehr denn je um Leistung und Gegenleistung. Wenn ein Partner das nicht erfüllen kann, fordern wir Pönalen ein.

(+) plus: Trotzdem gibt es immer wieder Kritik am Kurssystem des AMS. Berechtigt?
Buchinger: Zu einem gewissen Grad ist die Kritik sicher berechtigt. Bei unseren Kundenbefragungen gibt ein Drittel an, dass sie unfreiwillig im Kurs sitzen. Daran gemessen ist der Grad der Unzufriedenheit relativ gering. Daraus schließen wir, dass die Kurse gut sind und es den Trainern gelingt, die Leute zu motivieren.

(+) plus: Kann »unfreiwillig« nicht auch bedeuten, dass die Leute einfach im falschen Kurs sitzen?
Buchinger: Das kann natürlich auch sein. Aber wenn jemand glaubt, dass er im falschen Kurs sitzt und ein Bild davon hat, wie der richtige aussieht, dann kann das binnen Tagen geklärt werden. Schwierig wird es bei Leuten, die zwar wissen, welche Kurse sie sicher nicht brauchen, aber keine Ahnung haben, welche Kurse ihnen weiterhelfen würden.

(+) plus: Die vielzitierte Arbeitsunwilligkeit?
Buchinger: Wirklich arbeitsunwillig ist nur eine kleine Minderheit. Ergänzt man die Zahl der Unwilligen mit den sehr wählerischen Personen, die kaum bereit sind, aktiv etwas für einen neuen Job zu tun, dann steigt die Zahl aber rapide an. Dann reden wir von bis zu einem Drittel der Arbeitslosen. Die wollen den Job, den sie hatten. Ohne die Bereitschaft zur Fortbildung bekommen wir massive Probleme. Wenn wir zu lange zulassen, dass die Leute an ihren alten Jobs festhalten, bauen wir einen immer höheren Bestand an auch in der Hochkonjunktur nicht mehr integrierbaren Langzeitarbeitslosen auf.

(+) plus: Um die Zahl der Langzeitarbeitslosen zu verringern, wurde die Aktion4000 gestartet. Gibt es schon ein erstes Resümee?
Buchinger: Es gibt erfreuliche Anzeichen. Alle Bundesländer nehmen an der Aktion teil. Ziel ist es, Langzeitarbeitslosen den Wiedereintritt in die Berufswelt zu ermöglichen. Dafür gibt es großzügig geförderte Arbeitsplätze im öffentlichen und gemeinnützigen Bereich. Angestrebt wurden 4.000 Arbeitsplätze, derzeit sind wir schon bei 5.000.

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