Montag, April 29, 2024
Energie demokratisieren
Um bis 2035 CO2-frei zu werden, setzt Finnland auf die freie Marktwirtschaft: Durch die Teilnahme am Energiemarkt verdient jeder an der grünen Wende. (Credit: Fingrid)

Um die Energieversorgung zu ­sichern, setzt Finnland auf die Hilfe von Unternehmen. Vom Shopping-Center über die Brauerei bis hin zu Konsument*innen – an der Energiewende können alle mitverdienen.

Das kleine Land im Norden Europas hat ein ehrgeiziges Ziel: Bis 2035 will Finnland komplett CO2-neutral sein. Möglich werden soll das durch mehr Erneuerbare, aber vor allem durch kluges Netzmanagement, Digitalisierung und einen sehr demokratischen Blick auf Energie. »Die Finnen sind ein Volk von Ingenieuren.« Harald Schnur, Leiter von Siemens Smart Infrastructure für Finnland und die baltischen Länder, muss es wissen: Seit knapp zehn Jahren setzt der Deutsche hier Projekte für Siemens um und begleitet die finnische Energiewende. »Technologie gilt hier als Antwort auf viele Herausforderungen.« 

Finnland folgt einem pragmatischen Weg: Um die eigenen Klimaziele zu erreichen, wird es nicht genügen, nur erneuerbare Energien auszubauen. Zudem das Land die vollständige Elektrifizierung plant – von der Wärmeversorgung bis hin zur Stahlindustrie. Dafür wird mehr als die doppelte Menge an Energie nötig sein. Die zweite Herausforderung: Ein Großteil der Energie wird im Norden erzeugt, konsumiert wird aber hauptsächlich im Süden. Dazwischen verlaufen Transmissionsnetze, deren Auslastung kritisch für die Energieversorgung ist. Besonders dann, wenn der Anteil der volatilen Erneuerbaren weiter steigt. »Die große Revolution findet jetzt auf Seiten der Konsumenten statt«, sagt Jukka Ruusunen, CEO von Fingrid, einem der größten Netzbetreiber des Landes. Was meint er damit? 

Eine Win-Win-Situation

Netzbetreiber Fingrid forciert die Durchsetzung flexibler Energiemärkte: Dort sinken und steigen die Preise für Strom je nach Netzauslastung und Nachfrage. Die Idee: Konsument*innen sollen diese Preise einsehen – und ihre Energienutzung entsprechend anpassen. Sind die Preise niedrig, kann mehr verbraucht werden; sind sie hoch, sollte man Energie sparen. Jeder – vom großen Unternehmen bis hin zu den Bürger*innen – erhält dabei Zugang zum Energiemarkt.

»Sind Kunden aktiv in den Energiemarkt eingebunden, können sie das System stützen – indem sie uns helfen, die Balance zwischen Angebot und Nachfrage aufrechtzuerhalten. Damit steht der Konsument im Zentrum des Energiesystems«, erklärt Ruusunen. Das zahle sich aus: »Wer aktiv teilnimmt, kann damit Geld verdienen.« Gleichzeitig helfe man Netzbetreibern dabei, die Netzleistung stabil zu halten, Spitzen auszugleichen und eine Überlastung des Systems zu vermeiden. 

Jukka Ruusunen, Fingrid: »Wir brauchen die zusätzliche Flexibilität, vor allem in Zeiten des steigenden Energie­bedarfs.« (Bild: Fingrid)

Das funktioniert nur, weil Finnlands Energiesystem bereits hochdigitalisiert ist. Nicht nur besitzt jeder Haushalt ein Smart Meter, Fingrid hat bereits 2018 gemeinsam mit Siemens einen digitalen Zwilling des nationalen Netzes erstellt. Echtzeitdaten zur Auslastung werden analysiert und laufen weiter an die digitale Energiebörse. Konsument*innen können ihren eigenen Konsum pro Tageszeit verfolgen und bereits seit zehn Jahren per App die stündlichen Kurse einsehen.

Die Preise beweisen, dass das funktioniert. Noch im vergangenen Jahr herrschte in Finnland Panik, als Russland die Gas­pipeline kappte. Letzten Herbst war die Strompreisapp eine der beliebtesten Gratisapps im Land. Aber das Land hat sich gefangen: Anfang Mai zahlten die Finnen für eine Megawattstunde gerade einmal zwei Euro – gegen Ende des Monats sanken die Preise gar in den Minusbereich. Schuld daran war der neue Atomreaktor Olkiluoto 3 und das Überangebot an grünem Strom aus Wasserkraft. »Letzten Winter war die Energieversorgung Thema Nummer eins. Jetzt denken wir darüber nach, wie wir die Produktion begrenzen können«, sagte Ruusunen Yle dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Finnland. Handhaben konnte man die Situation dennoch – auch durch den Reserve­markt.


Finnland bezieht rund 54 Prozent seiner Energie aus erneuerbaren Quellen. Sie stammt hauptsächlich aus Laufwasserkraft und On-shore-Windparks. Fürs Erreichen der Klimaneutralität 2035 soll ihr Anteil trotz der neuen Atommeiler in den kommenden Jahren steigen. Fingrid CEO Jukka Ruusunen baut vor allem auf Windkraft. Aber auch Solarkraft könnte vielversprechend sein: Zwar scheint im finnischen Winter kaum die Sonne – dafür liegt die Sonnenscheindauer im Mittsommer an manchen Tagen bei bis zu 18 Stunden.


Gebäude als aktive Assets

Die Teilnahme an Energie- und Reservemarkt rentiert sich auch für Unternehmen außerhalb der klassischen Energiewirtschaft. Zwar braucht es Investments etwa in Gebäudeautomation und Digitalisierung, den Unternehmen winken jedoch jährliche Ersparnisse im sechsstelligen Bereich. Als Partner für solche Umrüstungen hat sich Siemens mit dem Segment Smart Infrastructure positioniert. Bereits seit einigen Jahren setzt der Technologiedienstleister in Finnland zusammen mit Unternehmen verschiedenste Szenarien um – jedes davon ein Einzelfall, ein »Testlauf« – aber mit Erfolg.

So beispielsweise bei Sello, einem Einkaufszentrum der Megaklasse in der Nähe von Helsinki. Auf einem Areal von 102.000 Quadratmetern beinhaltet der Gebäudekomplex neben Einkaufsmeilen unter anderem eine Konzerthalle, eine Bibliothek, ein Hotel und – das ist das Besondere – Sello ist außerdem ein virtuelles Kraftwerk, eine »Virtual Power Plant« (VPP). 2019 wurde das Zentrum als VPP an den Energiemarkt angeschlossen und bietet sich Fingrid seitdem als Regulierungseinheit an.

Das Einkaufszentrum Sello nahe der finnischen Hauptstadt Helsinki gilt als eines der modernsten und ­umweltfreundlichsten Gebäude Finnlands. (Bild: Sello)

Das Einkaufszentrum kann damit nicht nur auf volatile Energiepreise reagieren. Droht dem Netz eine Überlastung, bezieht Sello auf Anfrage von Fingrid weniger Strom. Dann werden die Lichter gedimmt oder, typisch Norden, die Schneeschmelz­anlage runtergefahren. Energienutzung und Energieverbrauch werden außerdem vorausschauend an Außenkonditionen wie das Wetter angepasst. Die Besucher*innen spüren davon nichts – und trotzdem sparen die Betreiber durch ihr kluges Energiemanagement jährlich rund 130.000 Euro.

Möglich wird das durchs intelligente Gebäudesystem, das Siemens bereits beim Bau 2003 installiert hat. Aus rund 1.200 Sensoren fließen Echtzeitdaten über Temperatur, Energieverbrauch und Auslastung auf einer von Siemens gemanagten Cloud­plattform zusammen. Außerdem verfügt das Einkaufszentrum über eine Solaranlage, Generatoren und Batteriespeicher. »Innerhalb kürzester Zeit kann das Gebäude vom Laden zum Entladen wechseln – und so eine Leistung von 3,5 MW flexibel freistellen«, erklärt Anssi Laaksonen, Head of Siemens Smart Infrastructure Sales. Auf dem flexiblen Energiemarkt verdient Sello eigenen Angaben zufolge damit jährlich rund 350.000 Euro.

»Ein Gebäude ist eine Anlage, die kostet. Verleiht man einem Gebäude aber Intelligenz, verleiht man ihm auch Leben – und das lässt sich nutzen«, meint Harald Schnur. Und Sello spart mit diesem Konzept nicht nur bares Geld, sondern konnte seinen Energieverbrauch seit 2019 auch um 40 Prozent senken. 

Die Wirtschaft als Motor der Energiewende

Sello ist kein Einzelfall. Andere finnische Unternehmer sind von der Idee ebenso überzeugt – auch Pasi Lehtinen, Direktor der finnischen Carlsberg-Tochter Sinebrychoff. Knapp 200 Meter entfernt von der Produktionshalle hat die Brauerei einen Batteriepark installiert: »Wenn der Preis niedrig ist, laden wir die Batterien, ist er hoch, benutzen oder verkaufen wir die Energie«, so Lehtinen. Vor allem während der Energiekrise 2022 habe man davon profitiert.

Bei den unscheinbaren weißen Bausteinen handelt es sich um Lithium-Ionen-Batterien. Insgesamt stellt Sinebrychoff mit ihrem eigenen Speicherkraftwerk eine Leistung von 20 MWh zur Verfügung. (Bild: Sarah Bloos)

Indem sie zusätzliche Kapazitäten schaffen, erspielen sich Unternehmen Freiräume von starren Energiepreisen. Durch die Echtzeit-Teilnahme am Energiemarkt können Unternehmen »genau dann Energie nutzen, wenn sie sie brauchen – so viel sie brauchen«, erklärt Constantin Ginet, Global Head of Energy Performance Services bei Siemens Smart Infrastructure. Dieses neue Konzept von Flexibilität werde bleiben: »Energie ›on the Edge‹ ist die Zukunft.« Ginet glaubt, dass neben finanziellen Motiven auch ein gestiegenes Bewusstsein fürs Klima steht: »Selbst durch nachträgliche Digitalisierung und Umrüstung lassen sich in den meisten Sektoren riesige Energie-Ersparnisse erzielen. Und die Industrie nimmt die CO2-Reduktion ernst. 

Sinebrychoff-Braumeister Heikki Vuokko braut nicht nur zu niedrigen Energiepreisen, sondern seit Mai 2021 auch emissionsfrei: Die Brauerei wandelt das CO2 aus der Fermentation ins Kohlensäure um, die dann in den hauseigenen Softdrinks landet. (Bild: Sinebrychoff)

Politische Blockaden

»Ernster als die Politik«, meint auch Fingrid-CEO Ruusunen: »Die Wirtschaft treibt die Transformation voran«, bestätigt er. Die Politik solle sich seiner Meinung nach eher zurückziehen.

In Finnland stehen der grünen Wende tatsächlich oft (noch) gesetzliche Regelungen im Weg. Beispielsweise beim Lemenene Microgrid Project im Industriegebiet in Lempäälä. Neben dem Hauptgeschäft in der Wärmeerzeugung hat der Versorger Lempäälän Energia hier mithilfe von Siemens ein Microgrid errichtet. Die Idee: Ein von der nationalen Energieerzeugung unabhängiges, mit erneuerbaren Energien betriebenes lokales Mini-Stromnetz, das für die angesiedelte Industrie flexibel Elektrizität bereitstellt.

Die gesetzliche Lizenz für die regionale Stromversorgung besitzt allerdings ein anderes Unternehmen – Pech für Lämpäälän Energia-CEO Mikko Kettunen. Für den Moment stellt das Microgrid seine Kapazitäten darum auf Fingrids Reservemarkt zur Verfügung. Kettunen gibt sich dennoch zuversichtlich: »Leider ist es nicht so, dass man einfach die Kabel verbindet und liefert – noch. Mal sehen, was uns die Zukunft bringt.« Ähnlich ist es übrigens in Österreich mit der Fernwärmversorgung: Planung und Betrieb eines Fernwärmekraftwerks übernimmt immer nur ein Anbieter – Mitbewerb würde sich schlicht nicht rechnen. Damit nimmt jeder Anbieter in seiner Region eine Monopolstellung ein und bestimmt die Preise. Flexibel aussuchen können sich Haushalte da nichts – und ob in einer Region überhaupt Fernwärme angeboten werden kann, hängt von politischen Beschlüssen ab.

Vom Norden lernen

Von so viel Transparenz wie in Finnland können Österreicher*innen nur träumen. Die hiesige Regulierungsbehörde E-Control verzeichnete im vergangenen Jahr einen regelrechten Ansturm an Anfragen und Beschwerden. Grund waren die Turbulenzen auf den Gas- und Strommärkten und die teils massiven Preiserhöhungen, mit denen Verbraucher*innen plötzlich konfrontiert waren. Der Vorstand der E-Control Wolfgang Urbantschitsch meinte auf einer Pressekonferenz im Februar: »Wir spüren eine große Verunsicherung bei den Konsument*innen. Das führt dazu, dass das Informationsbedürfnis enorm zunimmt.« Der Tarifkalkulator auf der Webseite der Behörde verzeichnete 2022 ein Allzeit-Hoch mit einer Verdreifachung der Besuche. 

Wolfgang Urbantschitsch, E-Control, kritisierte vergangenes Jahr angesichts des Preiswirrwarrs: »Nötig ist Transparenz, um das Vertrauen in den Markt wiederherzustellen.« (Bild: Foto Wilke)

Eine Alternative zu unübersichtlichen Tarifen sind sogenannte Spotmarktprodukte – allerdings nur für diejenigen, die schon ein Smart Meter besitzen: Dabei orientiert sich der Energiepreis an den stündlichen Börsenpreisen (plus Händleraufschlag) – praktisch, weil man dann die Waschmaschine zum billigsten Zeitpunkt anschalten kann. Den aktuellen Preis kann man beispielsweise auf Seiten der EXXA einsehen. Solche Float-Tarife gibt es beispielsweise beim Wiener Start-up aWATTar. Große Energieanbieter scheinen sich mit flexiblen Tarifen aber noch schwer zu tun. Verbund oder Wien Energie bieten immerhin monatlich angepasste Strompreise an.

Das Abnahmeentgelt für Energie  – beispielsweise aus PV-Anlagen – ist hingegen meist fixiert. Nur wenige Anbieter kaufen Strom zum aktuellen Marktpreis. Auch in Österreich können sich Unternehmen oder Kraftwerksbetreiber für die Teilnahme am Reservemarkt der Austrian Power Grids, am Regelenergiemarkt, bewerben. Der Energiemarkt ist längst für alle geöffnet. Auch im Sinne der Energiewende.


Siemens Smart Infrastructure

Mit dem Segment Smart Infrastructure deckt Siemens alle Themen rund um smarte Energienutzung ab: von Gebäuden und der Industrie bis hin zu Transportwesen und Netzinfrastruktur. Thomas Kiessling, Leiter von Siemens Smart Infrastructure, betont: »Um auf die Herausforderungen der Energiewende vorbereitet zu sein, muss die physische Infrastruktur resilienter werden – durch Digitalisierung, Dekarbonisierung und Dezentralisierung.«

Thomas Kiessling, Siemens Smart Infrastructure: »Dezentrale Netze oder Microgrids können die großen Netzbetreiber natürlich nie ersetzen. Aber sie können Systeme insgesamt autonomer, umweltfreundlicher und resilienter machen. (Bild: Siemens)

Der Klimawandel könne eine Chance für Unternehmer*innen sein – wenn man smarte Systeme hat, die darauf flexibel reagieren können. Siemens steht Unternehmen dabei als Berater, Umsetzer oder Plattformbereitsteller zur Seite und entwirft maßgeschneiderte, offene Systeme. Innovation findet damit direkt beim Kunden statt – und auch Lösungen externer Partner können integriert werden. 

Mehr Informationen unter www.siemens.com

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