Samstag, April 27, 2024

Rund 1,2 Millionen Menschen in Österreich leben mit einer Behinderung, nur ein Bruchteil von ihnen ist in die Arbeitswelt integriert. Einige Unternehmen gehen nun mit gutem Beispiel voran – eine Win-win-Situation für Mitarbeiter, Führungskräfte und Kunden.

Amadé Modos spricht 16 Sprachen, studierte Versicherungsmathematik und kann sich in mathematische Details geradezu mit Leidenschaft verlieren. Dass er im Laufe seines Berufslebens in kaum einer Firma länger blieb und auch einige Zeit arbeitslos war, liegt an seiner Besonderheit. Modos hat das Asperger-Syndrom, eine Form des Autismus, die durch erstaunliche Wahrnehmungsgabe und analytisches Denkvermögen gekennzeichnet ist. »Ich konnte aber größere Zusammenhänge nicht erkennen, es war, als würde mir ein Sinnesorgan fehlen. Ich wusste, ich bin anders, konnte es jedoch nicht definieren«, erzählt der 43-Jährige. Als er 2012 endlich die Diagnose bekam, empfand er es als Erleichterung.
Über Vermittlung des Vereins Specialisterne erhielt Modos eine Anstellung bei LexisNexis, einem Verlag für juristische Fachliteratur. Hier führt er Lektoratstätigkeiten durch, u.a. den Abgleich gedruckter und digitaler Versionen – eine sehr monotone Routinearbeit, die große Genauigkeit erfordert und seinen Talenten besonders entspricht.

»Ich kann mich auf wenige, konkret definierte Arbeitsbereiche konzentrieren, ohne dass mir Scheuklappenmentalität vorgeworfen wird«, erklärt Modos. Menschen mit Autismus haben generell Probleme in der sozialen Interaktion und Kommunikation. Sie können »ungeschriebene Gesetze« des Zusammenlebens nicht verstehen oder nicht richtig anwenden, weshalb es immer wieder zu Missverständnissen kommt. Manchen Betroffenen fällt es beispielsweise schwer, anderen in die Augen zu sehen, was fälschlicherweise als unhöfliches Verhalten interpretiert wird. Schon Bewerbungsgespräche können aufgrund der geforderten sozialen Interak-tion eine große Hürde sein.

Besondere Talente

Rund 80.000 Menschen mit Autismus leben in Österreich, ein Drittel von ihnen hat das Asperger-Syndrom. 80 % sind arbeitslos, obwohl sie zum Teil hochqualifizierte Tätigkeiten ausüben könnten. »Hier geht großes Potenzial verloren. Wir wollen die Talente dieser Menschen in den Vordergrund stellen«, erklärt Elisabeth Krön, Geschäftsführerin von Specialisterne Österreich.

Der Verein Specialisterne (dänisch: »die Spezialisten«) folgt einem Konzept, das der IT-Techniker Thorkil Sonne 2004 in Dänemark begründete. Ziel ist es, weltweit eine Million Arbeitsplätze für Menschen aus dem Autismus-Spektrum zu schaffen. Seit 2011 ist die Organisation auch in Öster­reich aktiv. Unterstützt durch die Stiftungen Essl und Hil Foundation, ohne öffentliche Gelder, vermittelt der Verein in Form von gemeinnütziger Arbeitskräfteüberlassung Mitarbeiter an Firmen und begleitet sie bei ihrem Start, um bestmögliche Integration zu ermöglichen.

Das Softwarehaus Anecon hat gemeinsam mit Specialisterne ein eigenes Ausbildungsprogramm entwickelt. Zehn der 70 Mitarbeiter sind Autisten – »das ist schon eine große Gruppe«, wie Geschäftsführer Hannes Färberböck bestätigt. »Die speziellen Begabungen von Menschen mit autistischer Wahrnehmung – analytisches Denken, ein Blick für Details, Mustererkennung und Genauigkeit – sind Fähigkeiten, die gute Software-Tester auszeichnen.«
Auch T-Mobile beschäftigt seit einigen Monaten drei Personen mit Asperger-Syndrom in der Datenanalyse. »Wir haben vier Millionen Kunden, die Verträge sind zum Teil 15 Jahre alt, mit unterschiedlichen Tarifen und Modalitäten. In so einem komplexen System muss es Fehler geben«, erklärt Unternehmenssprecher Helmut Spudich. Datenspezialistin Alexandra Martinu, nach ihrem FH-Studium zunächst bei Baumax in der Logistik tätig, überprüft nun bei T-Mobile Rechnung für Rechnung mit Akribie: »Je mehr Details und Wechselwirkung es gibt, desto besser. Dafür bin ich weniger gut mit Menschen und insbesondere mit neuen Kontakten.«

Abhilfe schaffen abgeteilte Arbeitsplätze und Kopfhörer, um den erhöhten Lärmpegel eines Großraumbüros zu dämpfen. »Auf andere Verhaltensweisen einzugehen, braucht manchmal Zeit«, meint Spudich. »Es gibt aber Lösungswege und man kann sie um-setzen.«

Stolpersteine

»Man braucht nicht für jeden Mitarbeiter einen eigenen Ruheraum«, räumt Specialisterne-Leiterin Krön mit einem Vorurteil auf. »Einige sind sehr kommunikativ und wollen gar nicht allein sein. Andere wollen nur ihre Mittagspause ungestört verbringen, ohne unhöflich zu erscheinen.« Wichtiger als Rückzugsorte sei eine klare Aufgabenstruktur. Für Autismus gilt automatisch eine Beeinträchtigung von 30 %, eine Bewilligung über 50 % kann beantragt werden, um den Status »begünstigter Behinderter« zu erlangen und unter das Behinderteneinstellungsgesetz zu fallen. »Das ist für die Betroffenen meist kein Thema. Sie wollen als reguläre Arbeitskräfte einen Job finden«, sagt Krön.
Auch Gregor Demblin, Gründer der Jobplattform Career Moves und der Unternehmensberatung Disability Performance, betrachtet die gesetzliche Regelung – bezogen auf alle Menschen mit Behinderungen – als »sehr unglücklich«: »Viele Menschen sagen zu Recht: Dann stellt mich niemand mehr ein. Die Unternehmen glauben, einen Menschen mit Behinderung werden sie nie wieder los. Das stimmt zwar nicht, dieses Vorurteil sitzt aber tief in den Köpfen.« Seit Jänner 2011 wird der Kündigungsschutz nicht mehr nach sechs Monaten, sondern erst nach vier Jahren wirksam. Und selbst dann ist eine Kündigung in bestimmten Fällen noch möglich.

Die EU-SILC-Studie erfasste für Österreich 650.000 Menschen zwischen 18 und 64 Jahren mit Behinderung. Davon haben nur 95.000 einen Einstellungsbescheid, d.h. rund 550.000 Personen im erwerbsfähigen Alter sind nicht berufstätig. Sie beziehen entweder eine Pension, sind nicht arbeitslos gemeldet oder arbeiten ohne Bescheid. In der Gesamtbevölkerung beträgt der Anteil der Menschen mit Behinderung 15 % – mit steigender Tendenz. Pro Jahr erhöht sich die Zahl um 2 % durch Menschen, die infolge ihrer Arbeit oder des Älterwerdens eine Behinderung erwerben. Mehr als die Hälfte der Bezieher einer Invaliditätspension scheiden wegen psychischer Erkrankungen aus dem Erwerbsleben aus.
Vom Gesetz her ist jedes Unternehmen mit mehr als 25 Beschäftigten verpflichtet, pro 25 Arbeitnehmern eine begünstigte behinderte Person einzustellen. Erfolgt dies nicht, ist eine Ausgleichstaxe zu zahlen. Für das Jahr 2016 beträgt diese 251 Euro pro Monat und nicht besetzter Pflichtstelle. Bei Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten fällt eine Ausgleichstaxe von 352 Euro an, bei Unternehmen mit 400 und mehr Beschäftigten sind es 374 Euro. Die Mittel fließen in einen Fonds, der Förderungen zur beruflichen und sozialen Integration gewährt.

Obwohl das zuständige Sozialministeriumsservice (früher Bundessozialamt) die Ausgleichstaxe explizit nicht als Strafe sehen will, bleibt, wie Demblin meint, »wie bei allen Quotensystemen ein negativer Beigeschmack: Das sind schlechtere Leistungsträger und man muss die Unternehmen zwingen, sie zu beschäftigen. Andererseits ist es das einzige Instrument, das nachhaltig Veränderung bringt.« Er regt an, die Ausgleichs-taxen anzuheben, gleichzeitig aber aus diesem Topf Auszahlungen zu tätigen, »und zwar an jene Unternehmen, die die Quote übererfüllen, und an kleine und mittelständische Betriebe, die gar nicht verpflichtet wären, Behinderte anzustellen und das trotzdem tun – ein Bonus-Malus-System sozusagen.«

Wachsende Zielgruppe

Demblin bündelt auf seiner Online-Plattform Career Moves die Stellenangebote hunderter Vereine und Organisationen. Seit dem Start 2009 gingen 17.000 Jobs online, tagesaktuell sind zwischen 500 und 700 Stellen offen. Als Ziel peilt der umtriebige Netzwerker die 1.000er-Grenze an: »Wir achten darauf, dass aus allen Branchen und Qualifikationsniveaus ein bunter Mix geboten wird – vom Regaleinschlichten bis zur IT-Technik.«

Sein zweites Standbein, Disability Performance, dient dabei als Türöffner. 16 namhafte Unternehmen, darunter Bank Austria, Rewe International, Post AG, Novartis, Erste Bank und Flughafen Wien, unterzogen sich einem Disability-Check, um Ungleichheiten abzubauen und das Thema zu enttabuisieren. »Führungskräfte und Mitarbeiter sollen sich trauen, offen darüber zu reden, welche Art von Unterstützung gebraucht wird. Das können flexible Arbeitszeitmodelle sein, damit Betroffene dann arbeiten können, wenn sie wirklich leistungsfähig sind, oder ein großer Bildschirm oder eine Diktiersoftware«, erklärt Demblin.

Als Basis dient eine professionelle Analyse der Unternehmensprozesse und Rentabilität. Auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung einzugehen, ist zunehmend auch ein entscheidender Wirtschafts- und Wettbewerbsfaktor. Intern – bezogen auf betroffene Mitarbeiter im Unternehmen – und auch extern, da gerade diese Zielgruppe unter den Kunden stark wächst.

»Jedes Jahr entgehen der Wirtschaft auch auf der Kundenseite zweistellige Milliardenbeträge, weil Angebote für diese Zielgruppe fehlen oder nicht wahrgenommen werden können«, berichtet Rollstuhlfahrer Gregor Demblin aus eigener Erfahrung: »Viele Betroffene würden gerne mit Angehörigen oder Pflegepersonen auf Urlaub fahren, es gibt aber keine entsprechenden Angebote. Das gilt auch für Geschäfte: Wenn es beim Eingang Stufen gibt oder die Regale zu hoch sind, werde ich dort nicht mein Geld ausgeben können.«

Sichtbar machen

Blind oder auf den Rollstuhl angewiesen sind vergleichsweise wenig Menschen. 90 % der Behinderungen sind nicht sichtbar – darunter etwa chronische und psychische Krankheiten, Stoffwechselkrankheiten, Einschränkungen des Bewegungsapparates oder beim Hören – und werden von den Betroffenen deshalb oft verschwiegen. Dabei können die meisten Jobs trotz einer Beeinträchtigung erfüllt werden.

Manchmal kehrt sich das vermeintliche Handicap sogar zum Vorteil. Dass ihr Anderssein etwas Positives sein kann, müssen die Betroffenen nach einer Vielzahl schlechter Erfahrungen erst lernen. Gerade Menschen mit Autismus neigen gerne zur Untertreibung, wie Specialisterne-Geschäftsführerin Krön weiß: »Wir haben einen Doktor der Chemie, der seinen Studien­abschluss nicht in den Lebenslauf schreibt, weil das für ihn nichts Besonderes ist.«

Glossar: Wie sag ich's richtig?

Ist das Wort »Behinderung« politisch korrekt? Die Experten von Career Moves sagen ja – allerdings kommt es auf die Formulierung an. Es gibt nichts zu beschönigen, aber auch nichts zu verstecken. Vielmehr geht es darum, zu zeigen, dass eine Behinderung nicht das ganze Ich einer Person ausmacht.

DO

  • Menschen mit Behinderung, behinderte Menschen: Eine Behinderung definiert nicht den ganzen Menschen.
  • eine Behinderung haben: Ich bin nicht behindert, sondern ich habe eine Behinderung.
  • Beeinträchtigung: Dieses Wort bezieht sich auf die körperlichen Aspekte einer Behinderung. Es ist per se nicht falsch, spart aber die soziale Dimension aus.
  • Disability: Auf den englischen Begriff auszuweichen, ist manchmal eine gute Alternative. Allerdings ist das Wort noch nicht allen geläufig.
  • Einschränkung: Diesen Begriff empfinden Menschen mit Behinderung oft als hilfreich. Auch in Kontexten, wo das Wort Behinderung zu drastisch erscheint, findet er Anwendung.

DON'T

  • der/die Behinderte, behindert sein: Diese Wortwahl reduziert den Menschen auf die Behinderung, als wäre es das einzige identitätsstiftende Merkmal.
  • Handicap: Abgeleitet vom Golfsport bedeutet der Begriff Benachteiligung, wird aber auch im Englischen heute nicht mehr für behinderte Menschen verwendet.
  • Besondere Bedürfnisse, besondere Fähigkeiten: Diese Formulierungen stellen die Behinderung zwanghaft als etwas Besonderes dar. Menschen mit Behinderung wollen jedoch das Thema in den Bereich der Normalität bewegen.

 

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