Tuesday, December 02, 2025

Mehrwert für Manager

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Kann man seine Liebe zu barockem Tafelsilber und Biedermeier-Teetassen zum Beruf machen? Kunsthistorikerin Annette Ahrens, besser bekannt als die »Tafelkulturistin«, ist Österreichs Koryphäe für kultiviertes Speisen – von antiken Tafelaufsätzen über kuriose Besteckraritäten bis zum Wissen um den Charme der Tischmanieren.

Teatime in ihrer Bibliothek: Tafelkulturistin Annette Ahrens genießt Tafelkultur in Theorie und Praxis.

 

Dem Jungmanager ist das Herz in den Magen gerutscht. Führt er gerade die Salat- oder zur Vorspeisengabel zum Mund? Zu welchem Glas darf er auf keinen Fall greifen, und wo zum Kuckuck gehört nochmal die Serviette hin? Vor nicht allzu langer Zeit verköstigte er sich noch mit seinen WU-Kollegen in der Campus-Mensa, speiste mit Nirosta-Besteck und Plastiktabletts. Jetzt sitzt er beim Businessempfang im teuersten Restaurant der Stadt, vor ihm eine lange Latte an Besteck aufgereiht, wie Sprengfallen, die drohen, bei der falschen Bewegung seinen Ruf in die Luft zu jagen.

Säße »Tafelkulturistin« Annette Ahrens neben dem unsicheren Jungmanager, sie könnte ihn beruhigen und einweisen: Man beginnt beim äußersten Besteck und arbeitet sich zum Teller hin vor. Überhaupt müsse man keine Angst haben, oder sich denken, dass der Gastgeber einen mit Hummergabeln und anderen Spezialbesteck blamieren wolle. »Das muss man als Wertschätzung sehen, die er einem entgegenbringt, und sich selber gegenüber auch.« Außerdem sei nichts dabei, einfach zuzugeben, dass man das erste Mal einen Hummer esse, und erfahrenere Tafelgäste diskret um Instruktionen bitten. Wenn man nicht den Mut habe, solle man erfahrenere Gourmets imitieren.

Tradition und Tafelkultur
Grundsätzlich gelte laut Ahrens für alle, die sich bei Essenseinladungen unsicher sind: eher zurückhaltend sein als zu forsch. Keine sechs Gänge ordern, wenn die anderen nur eine Hauptspeise essen wollen, auch um Wartezeiten für den Rest der Gruppe zu vermeiden. Wenn man eingeladen ist, rät die Tafelkulturistin, nicht den teuersten Wein zu bestellen, und sich lieber ein wenig in Bescheidenheit üben. Hastiges Essen hinterlässt keinen sonderlich kultivierten Eindruck, so die Kunsthistorikerin, und ein gelegentlicher Seitenblick auf das eigene Getränk verhindert, einen Toast mit leerem Glas aussprechen zu müssen. Die Serviette müsse auch nicht ständig zum Mund geführt werden, es sei denn, eine üppige Sauce wurde aufgetischt und man möchte das Glas vor schmierigen Flecken bewahren. Ansonsten ruhe sie nonchalant auf dem Schoß. Klug sei auch, sich über den Dresscode schlau zu machen, um nicht im Polohemd am Tisch zu sitzen, wenn der Rest der Runde im Anzug samt Krawatte erscheint – wobei man sich in Etablissements wie dem Hotel Sacher eine Krawatte ausleihen kann.

Tafelkultur ist für Annette Ahrens nicht nur das Sammeln von historischem Fischbesteck oder die Geschichte von Wiener Porzellan. Es ist auch ein Wertesystem, ein Wissen um die Geschichte der Geselligkeit, der zwischenmenschlichen Verbindung durch Nahrungsaufnahme. »Im Grunde genommen hat Tafelkultur nichts mit Geld zu tun, auch nicht zwingend mit Macht. Es ist ein Übereinkommen, dass wenn wir – als Familie, als Firma, als Manager – an einem Tisch sitzen, gewisse Regeln herrschen. Regeln sind für mich nicht starre Etikette, wo man sich unwohl fühlt, sondern einfach eine Übereinkunft, die stillschweigend getroffen wurde. Das fängt damit an, dass man in unseren Breiten nicht rülpst und hört dort auf, dass man einander zumindest bei Tisch nicht mit dem Messer das Auge aussticht.« Faszinierend findet sie, was im Laufe der Geschichte gleichgeblieben ist, aber auch was sich verändert hat. »Einen runden Speisetisch hat es erst mit der Gleichberechtigung der Sitzpartner im Biedermeier gegeben. Im Barock hatte man noch ein Tischhaupt und eine ganz klare Sitzordnung.« Eine Tradition, die sich zwar nicht in den Esszimmern, aber in manchen Meetingräumen gehalten hat.

Frühes Faible für Fischbesteck
Annette Ahrens weiß, wovon sie spricht. Sie lebt, atmet, praktiziert Tafelkultur seit über drei Jahrzehnten. Dass sie sich schon als Studentin mehr für handbemalte Meissen-Teller als für Renaissancegemälde interessierte, irritierte die Professorenschaft am Institut für Kunstgeschichte, die ihr riet, sich lieber auf »etwas G’scheites« zu fokussieren. Ahrens ließ sich ihre Liebe zum »Underdog« Kunstgewerbe aber nicht nehmen und machte – nach Stationen als Expertin bei Wiener Auktionshäusern – ihre Leidenschaft zum Beruf. Den Berufstitel kreierte sie gleich mit: Tafelkulturistin: »Eine Frau, die sich für die Kultur beim Tafeln einsetzt. Die es den Leuten wieder schmackhaft macht, Fisch mit einem Fischbesteck zu essen.«
Was genau macht aber eine Tafelkulturistin? Annette Ahrens’ Aufgabenbereich ist weit gefächert. Wie viele Antiquitätenexperten bewertet sie Verlassenschaften, hilft Erbinnen und Erben, die sich nicht sicher sind, ob Tante Traudes Tablett nun Vollsilber sei oder nur versilbert.

Andere Kunden, die sich z. B. antikes Besteck anschaffen wollen, berät sie über Preis, Epoche und Qualität. Immer wieder konsultieren sie Filmproduktionen, die sich um die Akkuratesse historischer Details sorgen und sicher gehen wollen, beim Bankett von Kaiserin Maria There­sia nicht irrtümlich Art-Deco-Aufdruckdekortassen zu filmen. Filmcrews, denen die historische Korrektheit am Herzen liegen, können auch ausgewählte Teile aus Ahrens’ Fundus mieten. Bestand hat sie genug, ein weiteres wichtiges Standbein ist ihr Onlineshop, ein »Coronababy«, wie sie sagt. An sich legte sie den Shop an, um ihr Silberputzmittel »Polinette« verkaufen zu können (ursprünglich als Geschenk für besonders gute Kunden konzipiert, entwickelte sich eine große Nachfrage nach der Edelmetallpolitur).

Gab die begeisterte Kunsthistorikerin Annette Ahrens vor der Pandemie Tafelkulturobjekte bei Antiquitätenhändlern in Kommission, verkauft sie ihre Schätze vom Teesieb bis zum Tafelaufsatz seit 2020 in ihrem kuratiertem Tafelkultur-Onlineshop. »Ich habe dadurch weltweit Kunden gewonnen, bis nach Australien. Dort hat eine Dame ein Wiener Rokoko-Porzellanservice für ihre 16- jährige Tochter bestellt. Die hätte ich sonst nie kennengelernt.«

Ahrens verkauft bunte Tassen nach Japan, glänzende Karaffen nach Argentinien und tschechisches Silber nach Kalifornien. Sich einen Onlineshop einzurichten und so weltweit Kundinnen und Kunden zu erreichen, sei eine gute Möglichkeit, die Absatzveränderung am Antikmarkt zu kompensieren. »Der Shop hat 24 Stunden, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr offen und verschafft mir ein bisschen Handlungsfreiheit.« Die nutzt sie, um auf Antik- und Flohmärkten im In- und Ausland nach Tafelkultur-Schätzen zu jagen. »Manche Sachen gibt es einfach nur in London, manche nur in Paris. Wenn ich etwas verkauft habe, dann muss ich mein Depot wieder auffüllen.«

Sie durchstreift Brocantes und Antique Marktes nicht nur für den eigenen Shop, manchmal ist sie auch für Kunden auf der Jagd, wie vor Kurzen für Fünf-Sterne-Hotel im Westen Österreichs, die ganz spezifische Frühstücksmesser und 40 verschiedene Art Deco Eierbecher suchten. »Die gibt es in Wien einfach nicht. Ich weiß aber genau, wohin ich fahren kann, und bin der Spürhund für meine Kunden. Das macht mir Spaß.« Als Antiquitätenhändlerin sei man auch Sammlerin für seine Sammler. »Das heißt, ich freue mich für den Kunden, wenn ich einen Traubenwäscher finde. Das ist eine kleine Vase, wo bei Tisch die Weintrauben hineingegeben wurden, um sie vor dem Verzehr zu waschen.«

Für Schnurrbart und Sauerkraut
Ahrens geht es nicht nur um die kunsthistorische Bedeutung der Tafelkultur, sondern auch um das Vergnügen, das die Objekte mit sich bringen. »Manche Stücke sind unfassbar originell. Wer hat schon einen Egg Boiler, wo das Ei bei Tisch gekocht wird? Oder einen Schnurrbartlöffel, oder ein Sauerkrautbesteck in Gestalt einer Mistgabel? Das ist der unvergleichliche Charme dieser Antiquitäten, gerade wenn es originell und es so einzigartig ist. Wenn so ein Sammelstück bei mir am Tisch steht, dass es nur einmal auf der Welt gibt, kann das wirklich Freude bereiten.«

Für ähnlich denkende Esskultur-Enthusiasten hat Annette Ahrens 2019 die Gesellschaft für Koch- und Tafelkultur gegründet. »Ich wollte ein Podium schaffen, wo sich Gleichgesinnte austauschen können, ohne schräg angeschaut zu werden, dass sie für einen Käse 30 Euro ausgeben oder 400 Gabeln besitzen.« Die Gesellschaft ist ein Forum für Sammler, Produzenten, Hoteliers, Gastronomen, bei den diversen Events sind aber auch Amateur-Gourmets und Hobbytafelkulturistinnen mehr als willkommen.

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Bild: Gelebtes Wissen: Die Expertin berät Events und Filmproduktionen über historisch korrektes Tafeln.

Der Trend zum Tischbeserl
Die Jagd nach Tischkulturobjekten der vergangenen drei Jahrhunderte begann bei Annette Ahrens schon sehr früh. Schon mit zwölf Jahren durchsuchte sie Flohmärkte nach altem Besteck. Inspiriert wurde sie auch von ihrer böhmisch-stämmigen, gutbürgerlichen Babička. Die führte einen Haushalt mit geerbten Leinen und Damast-Tischwäsche, mit Stoffservietten, die mit Mascherln zusammengebunden in der Esszimmeranrichte auf ihren Einsatz warteten, gleich neben hauchdünnen Porzellantellern und handpoliertem Silberbesteck. Die Großmutter war es auch, die auf Tischmanieren insistierte: »Wir mussten gerade bei Tisch sitzen, durften vorm Essen nichts trinken. Das waren für mich als Kind sehr unbequeme Momente. Aber jetzt im Nachhinein bin ich eigentlich sehr dankbar, weil ich das Wesentlichste von ihr gelernt habe.«

Ahrens ist überzeugt, dass Tafelkultur und die Liebe zu Antiquitäten nicht nur generationsübergreifend, sondern auch eine Trendsache ist. Dass die Preise in der Branche seit Jahren sinken, liege einerseits am kleiner werdenden Wohnraum, wo sich keine wuchtigen Historismus-Anrichten unterbringen lassen. Andererseits begehren immer weniger Menschen, den Lifestyle des alten Adels zu imitieren. Manche antike Schätze könnten ein bisschen mehr positive PR brauchen: »Man kauft, was man sieht.« Klare Tafelkultur-Trends ließen sich auf jeden Fall beobachten: So herrsche in Ahrens’ Onlineshop eine rege Nachfrage nach Tischbe­serl und -schauferln. »Die Menschen sehen es im Restaurant, finden es witzig.« Um noch Menschen die Liebe zur Tafelkultur näherzubringen, postet Ahrens eifrig auf Social Media und plant, Menschen noch viele Jahre die Schönheit von versilberten Gewürzfässern und antiken Flaschenuntersetzern nahezubringen: »Ich hoffe sehr, dass man mir anstelle von Rosen ein paar Gabeln ins Grab nachwirft.«

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