Wednesday, December 17, 2025

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Warum Zentraleuropa vor einer neuen Realität steht. Aktuelle Entwicklungen und Erwartungen für die Energieversorgung mit Erdgas.

Bild: iStock


Die europäische Gasversorgung befindet sich in einem Umbruch. Mit dem endgültigen Auslaufen der russischen Pipeline­importe bis spätestens November 2027 setzt die EU auf eine strikte Neuausrichtung. Die Einfuhren von russischem LNG enden ab 2027 und Pipelinegas darf ab Herbst desselben Jahres nicht mehr importiert werden, wobei Sicherheitsklauseln nur in Notfällen greifen dürfen. Davon ist auch die österreichische Wirtschaft massiv betroffen. Zwar erhält das Land seit Anfang 2025 kein russisches Pipelinegas mehr über die Ukraine, es gibt auch keine langfristigen Importverträge mit Russland. Weiter ist Österreich aber von den zentral- und osteuropäischen Strukturen und Marktverhältnissen abhängig.

Diese Transformationsphase trifft auf ein System, das laut dem britischen Marktanalysten ICIS bereits seit 2021 in seinen Grundstrukturen erschüttert worden ist. Gasflüsse, die jahrzehntelang von Ost nach West ausgelegt waren, haben sich teilweise umgekehrt. In 40 Prozent der Knotenpunkte an den EU-Grenzen dominiert der Energiefluss von West nach Ost. Gleichzeitig haben sich die Tarife in der Region Zentral- und Osteuropa in diesem Zeitraum teils verdoppelt oder verdreifacht. Der Grund: Betreiber gleichen ihre Verluste aus dem Wegfall russischer Transitmengen aus. Österreich nimmt laut einem Whitepaper von ICIS nun eine zentrale Rolle ein, da das heimische Fernleitungsnetz als Korridor zwischen liquiden westeuropäischen Märkten und den ostwärts orientierten Verbrauchszentren Ungarn, Slowakei und Ukraine stärker gefragt ist.

Aussicht auf Engpässe
Carola Millgramm, Leiterin der Gas­abteilung von E-Control, sieht im europäischen Ausstiegsplan nicht nur Risiken, sondern Chancen. »Ein möglicher Vorteil des EU-Ausstiegsplans könnte eine Erhöhung der Transitmengen durch Österreich und daher eine stärkere Nutzung des österreichischen Fernleitungsnetzes sein. Dies würde höhere Einnahmen für die Fernleitungsnetzbetreiber und damit sinkende Netzkosten auch für österreichische Netzkunden bedeuten«, erklärt Millgramm gegenüber Report(+). Auch sie verweist darauf, dass Österreich schon jetzt einen deutlichen Anstieg von Gasflüssen in Richtung Osten verzeichnet, mit weiter steigender Tendenz. »Ende 2027 werden durch den Ausbau der West-Austria-Gasleitung weitere 27 Terawattstunden Transportkapazität pro Jahr zur Verfügung stehen, sodass Ungarn und die Slowakei verstärkt Gasimporte über Westeuropa nutzen können«, so die Expertin. Gleichzeitig entstehen neue Spielräume durch den Ausbau italienischer LNG-Kapazitäten, die Gas künftig auch in Nordrichtung transportieren könnten.

Die Preisentwicklung bleibt jedoch ein sensibles Thema. Millgramm mahnt, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen des Phase-out von globalen ebenso wie von regionalen Entwicklungen abhängig sind. »Nur wenn der Ausbau der LNG-Kapazitäten, der Start der Gasproduktion im Schwarzen Meer und die Beseitigung der West-Ost-Engpässe wirklich zeitgerecht umgesetzt werden, sind die Preisauswirkungen gering«, erwartet sie. Doch Verzögerungen könnten direkt zu Preisanstiegen im mitteleuropäischen Raum führen. Sie weist auch auf zusätzliche Risiken hin, die sich aus dem höheren LNG-Anteil ergeben. »Der europäische Gaspreis ist nun wesentlich stärker von globalen LNG-Marktbewegungen abhängig und innereuropäische Transportengpässe könnten zu Preisaufschlägen für Binnenstaaten führen.« Diversifizierung sei daher das zentrale Prinzip: »Günstigere Preise und eine geringe Erpressbarkeit erreicht man nur, wenn man Handlungsalternativen glaubhaft nachweisen kann«.

Bernhard Painz, Vorstand des Marktgebietsmanagers AGGM, beschreibt die aktuelle Marktlage aus Sicht des Netzkoordinators noch präziser und legt die strukturellen Belastungen offen. »Der geplante Importstopp für russisches Pipelinegas trifft besonders den mittel- und osteuropäischen Gasmarkt, der ohnehin schon teurer ist als Nord- und Westeuropa«, sagt er. Seit dem Wegfall des ukrainischen Transits werde Österreich zu rund 85 Prozent aus Deutschland versorgt und die entsprechenden Leitungen seien seit Monaten voll ausgelastet. Er erklärt: »Gleichzeitig geht etwa die Hälfte der Importe sofort weiter in den Transit nach Slowenien, Ungarn und in die Slowakei. Diese Kombination aus hoher Nachfrage und begrenzter Transportkapazität hält das Preisniveau in Österreich spürbar über dem TTF.« Der TTF ist der europäische Referenzpreis für Erdgas, ein virtueller Handelspunkt in den Niederlanden. Die Preisdifferenz habe sich zuletzt zwar entspannt, liege aber nach wie vor bei etwa drei Euro pro Megawattstunde, gegenüber Frankreich sogar bei mehr als vier Euro.

Painz warnt zudem, dass der endgültige Wegfall russischer Lieferungen über die TurkStream-Route zu einer spürbaren Verschärfung führen würde. »Zuflüsse aus dem Norden und Westen werden noch wichtiger, die Transportkapazität in diese Richtung ist aber bereits jetzt gut ausgelastet.« Das könne höhere oder volatilere Großhandelspreise auslösen, die sich zeitverzögert auch auf Endkunden auswirkten. Zwar seien Speicherstände und Gasreserve ein wichtiges sicherheitsstabilisierendes Element, lösen aber laut Painz das strukturelle Problem nicht. »Ohne zusätzliche Infrastruktur stagniert die Diversifizierung und damit wird auch der Standort im europäischen Vergleich strukturell benachteiligt«.

Diese Einschätzungen finden eine Bestätigung im ICIS-Whitepaper. Europäische Länder versuchen nun, ihre Netze strategisch neu auszurichten, stoßen aber auf Flaschenhälse und regulatorische Unsicherheiten. Österreich wird in dem Bericht exemplarisch genannt, da es seine Ein- und Austrittstarife bis 2026 deutlich erhöhen musste, was die Marktteilnehmer bereits als Belastung betrachten.


Markteinschätzung: Hier geht es zum Whitepaper »CEE gas tariff setting needs change of direction to reflect new opportunities« von Aura Sabadus, ICIS.

 

Coin one EURO on a gas torch.

Hintergrund: Unterschiede im Gasmarkt – heute und in Zukunft

Hohe Preise
Die Marktpreise in Österreich liegen im Handel um rund drei bis vier Euro pro Megawattstunde höher als in westlichen Vergleichsmärkten. Hauptgründe sind die Abhängigkeit von Importen über Deutschland, und ausgelastete Transportleitungen auch nach Ungarn, Slowenien und die Slowakei. An dieser Lage wird sich kurzfristig wenig ändern.

Lage verschärft
Mit dem EU-beschlossenen Phase-out bis spätestens 2027 fallen die letzten russischen Pipeline-Lieferungen für die Region weg. Das erhöht den Druck auf westliche und nördliche Importkorridore, die schon heute an ihrer Belastungsgrenze operieren. Dadurch steigt in Zukunft die Wahrscheinlichkeit stärker schwankender Großhandelspreise.

Infrastruktur
Österreichs Preisniveau hängt zunehmend davon ab, wie schnell und umfassend Transportkapazitäten erweitert werden. Projekte wie der Ausbau der West-Austria-Gasleitung könnten ab 2027 die Transitfunktion des Landes stärken und mittelfristig zu Preisdämpfung beitragen.

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