Freitag, April 26, 2024

»Die Welt aus den Angeln« lautet der Buchtitel von Philipp Blom, der darin eine recht kalte und unwirtliche Periode im ausgehenden 16. Jahrhundert beschreibt. Durch verschiedene Umwelt- und Natureinflüsse, aber auch damit verbundene gesellschaftliche Veränderungen, wurden zumindest in Europa neue Verhältnisse geschaffen. Gewisse Parallelen zur aktuellen Situation abzuleiten, ist durchaus zulässig. Ein Kommentar von Dr. Andreas Pfeiler, Geschäftsführer Fachverband Steine-Keramik.

Auch heute können wir eine »Welt aus den Angeln« beobachten. Nicht nur, dass uns in Europa schonungslos die Energieabhängigkeit unserer Gesellschaft aufgezeigt wird, müssen wir uns auch eingestehen, dass sich die Natur mit ihrer Kraft derzeit auch nicht von der freundlichsten Seite zeigt. Während also einerseits unsere Energielieferanten zunehmend unzuverlässiger werden, sorgen die Nachwehen der Pandemie, der Krieg vor den Toren Europas, Hitzeperioden und geringe Wasserstände für eine zusätzliche Instabilität und Neuordnung der Lieferketten. Aber wie soll man sich nun dem Problem stellen?

Eines steht fest: Der Umbau des Energiesystems ist kurzfristig nicht zu bewerkstelligen. Wer auf Sonnenenergie setzt, muss sich auf Lieferfristen bis zu einem Jahr und mehr einstellen, und auch der Netzausbau hinkt ob der Entwicklung stark hinterher. Nicht selten können PV-Anlagen wegen fehlender Netzkapazitäten erst gar nicht in Betrieb genommen werden. Der Umstieg auf nachwachsende Rohstoffe klingt auch nur am Papier gut. Die Mengen sind schlichtweg nicht verfügbar, will man den Gasausstieg ehestmöglich umsetzen.

Der propagierte kurzfristige Rückschritt zu Öl wird ebenfalls schwer möglich sein. Durch den schleichenden Ausstieg aus diesem Energieträger über Jahrzehnte fehlt auch hier bereits die erforderliche Transportinfrastruktur in nun gewünschter Größenordnung, von der Verfügbarkeit des Energieträgers ganz zu schweigen. Die niedrigeren Flusspegelstände wiederum sorgen für eine reduzierte Nutzung der Wasserkraft, was Lieferketten beeinflusst und auch zu geringerer Stromproduktion führt. 

Die Rahmenbedingungen werden schwieriger, Strukturen und Routinen müssen hinterfragt werden. 

Welt dreht sich weiter

Alles in allem ein schlechter Mix an Einflüssen, die für Verunsicherung sorgen und Energie kostbar machen. Die Planbarkeit für Unternehmen ist ohnehin bereits kaum mehr möglich und viele erwägen bereits die Produktion nach dem Winter nicht mehr in Betrieb zu nehmen. Stehen die Baustoffproduktionen, gibt es im nächsten Jahr auch keine Bautätigkeit. Gibt es keine Bautätigkeit…

Aber so weit wollen wir das Bild gar nicht malen, denn eines ist sicher, die Welt dreht sich auch im Frühjahr noch. Es gilt nun, Resilienz aufzubauen und Strukturen und Routinen zu hinterfragen. Denn mit dem bisherigen uns lieb gewonnenen Rüstzeug ist die Chance auf Erfolg gering. Aber wie auch immer die jetzige Phase ausgehen wird, es wird auch jene geben, die Chancen nutzen und zu Gewinnern werden. Ähnlich wie im späten 16. Jahrhundert, als die Niederlande die Neuordnung nutzten und zu einer weltumspannenden Seemacht aufstiegen.

(Bilder: Fachverband Steine-Keramik, iStock)

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