Samstag, April 27, 2024

Vor 40 Jahren schlug die Geburtsstunde von Berlins behutsamer Stadterneuerung. Jene Viertel, deren Abriss dadurch verhindert wurde, machen heute die urbane Qualität der Metropole aus. (Von Reinhard Seiß)

Betrieben von den Dogmen der Nachkriegsmoderne und den Begehrlichkeiten der lokalen Wohnbauindustrie drängten Berlins Politik und Verwaltung Anfang der 1960er-Jahre auf den flächenhaften Abriss der gründerzeitlichen Bebauung – und eine großmaßstäbliche Neuplanung. 56.000 Wohnungen und unzählige Gewerbe-, Handels- und Gastronomiebetriebe sollten dem ersten West-Berliner »Stadterneuerungsprogramm« zufolge allein in einer ersten Phase geschleift werden, um in gut erschlossenen Lagen monofunktionale, aber teure Wohnkomplexe errichten zu können.

Am Anfang stand der Protest

Die 68er-Studentenbewegung empörte sich über die unsoziale Stadtentwicklungspolitik und begann mit ersten Besetzungen leergeräumter Altbauten. In großem Stil hatten Wohnbauunternehmen ganze Häuserblöcke aufgekauft und ihren Niedergang mit mafiaähnlichen Methoden forciert: Es wurden Dächer abgedeckt und Stiegenhausfenster herausgerissen, sodass es in die Gebäude regnete und schneite. Immer mehr Bewohner ließen sich so zum Auszug drängen, doch wuchs auch der Zorn gegen die vorsätzliche Stadtverwüstung. 1979 waren allein im Bezirk Kreuzberg über 80 »entmietete« Häuser »instandbesetzt« – sprich, von der linken Szene widerrechtlich in Besitz genommen und in Eigenregie vor dem Verfall bewahrt worden.

Zur Person

Dr. Reinhard Seiß: ist Stadtplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien und Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung.

Im planerischen Diskurs kam der Begriff Altbau nicht einmal vor – bis der Architekturprofessor Hardt-Waltherr Hämer 1976, unter wütenden Protesten der Kollegenschaft an der Hochschule der Künste, seine Studie »Kostenanalyse der Modellmodernisierung von Altbauten« vorlegte und nachwies, dass es sich sehr wohl lohne, in die historische Substanz zu investieren. In der Folge wurde das ideologisch überfrachtete Thema Stadterneuerung in Berlin erstmals überhaupt sachlich diskutiert – während sich der gesellschaftliche Konflikt weiter zuspitzte: Der konservative West-Berliner Senat veranlasste immer wieder Zwangsräumungen von besetzten Häusern, die teils in mehrtägige Straßenschlachten mit der Polizei ausarteten.

Vertrauen aufbauen

Zu diesem Zeitpunkt war die 1979 ins Leben gerufene Internationale Bauausstellung bereits im Gange, die zu Beginn ganz andere Ziele verfolgte als jene, für die sie später bekannt werden sollte. Denn nach den ursprünglichen Vorstellungen der West-Berliner Politik hätten im Rahmen der IBA im Schwerpunktgebiet Kreuzberg nicht nur 1.500 Wohnungen saniert, sondern auch 1.500 Wohnungen abgerissen und neu gebaut werden sollen. Doch war dem Senat unter dem neuen Bürgermeister Richard von Weizsäcker inzwischen klargeworden, dass die Modernisierung der Stadt nicht mehr gegen den Willen der Bevölkerung möglich war. So wurde der auf Neubau ausgerichteten IBA die sogenannte »IBA Alt« zur Seite gestellt – und Hardt-Waltherr Hämer mit deren Leitung betraut.

»Als Erstes war es notwendig, das Vertrauen der Bewohner zu gewinnen, für die wir anfangs als Repräsentanten von Politik und Bauwirtschaft galten«, schilderte der 2012 verstorbene Stadterneuerungspionier die Anfänge. »Dies gelang nur, indem wir Architekten selbst mit Hand anlegten, um devastierte Häuser mit Plastikplanen und Holzlatten notdürftig winterfest zu machen.«

Siegeszug der Sanierung

Danach begannen Hämer und seine Mitarbeiter in tausenden von Mieterversammlungen Haus für Haus die erforderlichen und gleichzeitig leistbaren Sanierungsmaßnahmen auszuloten. Oft blieben sie unter den technischen Standards, die von der Verwaltung vorgegeben wurden, wenn die Mieter nur so die Erneuerung ihrer Wohnungen akzeptieren und mittragen konnten. Durch derartigen Pragmatismus konnte die IBA ihren Sanierungsauftrag bis Ende der 1980er- Jahre mehr als übererfüllen: In zehn Jahren wurden in Kreuzberg rund 10.000 Wohnungen saniert, davon mehr als 700 in Selbsthilfe, es wurden 22 Kindergärten und zehn Schulen geschaffen – oft gegen alle baurechtlichen Vorgaben –, zahlreiche Gemeinschaftseinrichtungen realisiert und über 180 Höfe begrünt. Und von den besetzten Häusern wurde der Großteil durch Miet- oder Kaufverträge den vormals illegalen Bewohnern überantwortet.

Als die »Baustelle« Kreuzberg abgeschlossen war, taten sich durch den Zusammenbruch der DDR gleich die nächs­ten auf – im Osten der nun nicht mehr geteilten Stadt. Allein am Prenzlauer Berg wartete ab 1990 mit 31.000 erneuerungsbedürftigen Wohnungen das dreifache Volumen der ganzen IBA auf Berlins Stadterneuerung – und dies war nur eines von 18 Sanierungsgebieten. Gleichzeitig verringerten sich die öffentlichen Mittel, sodass die Renovierung des Althausbestandes ab 2000 statt durch Subventionen nur noch durch die Möglichkeit von Steuerabschreibungen unterstützt wurde – was auf potente Hauseigentümer abzielte und nicht auf finanzschwache Altmieter. Mit der Folge, dass der »Prenzlberg« nach Aufwertung von 20.000 Wohnungen vom Arbeiterbezirk zum gentrifizierten Szeneviertel wurde – wobei dies weniger der Stadterneuerung an sich als der unzureichenden Wohnbau- und Mietrechtspolitik dieser Jahre anzulasten ist.

Verdrängungsprozesse sind mittlerweile auch in anderen gründerzeitlichen Quartieren wie dem inzwischen schicken Friedrichshain oder Neukölln zu beobachten. Dennoch kann auch Berlins Stadterneuerung der zweiten Generation als modellhaft bezeichnet werden. Der Architekt und Stadtplaner Erhart Pfotenhauer verweist zum einen auf eine neue Stadterneuerungskultur, die aus der öffentlichen Finanznot entstanden sei und noch stärker das Selbsthilfepotenzial der Bevölkerung zur Entfaltung gebracht habe – etwa bei der Realisierung von Gemeinschaftseinrichtungen. Zum anderen habe es sich als Erfolg erwiesen, die knappen Mittel für Investitionen in den öffentlichen Raum sowie in Freizeit- und Kulturprojekte zu bündeln. Solche Wohnumfeldmaßnahmen zeigten sich als Auslöser für private Investitionen ebenso wie als Basis einer neuen städtischen Lebensqualität.

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