Samstag, April 27, 2024
Grüne Festung im Norden
Blick über die Ostsee auf die estnische Hauptstadt Tallinn. Estland gehört zu den digitalisiertesten Ländern weltweit: Nicht nur gibt es hier seit über 20 Jahren WLAN per Gesetz, rund 99 Prozent des Landes sind mit kostenlosen Hot-Spots abgedeckt. (Credit: iStock)

Ein Rechenzentrum verbraucht jährlich so viel Energie wie eine Kleinstadt. Länder wie Irland oder die Niederlande reagieren mit Sorge und Verboten auf das Problem. Andere setzen stattdessen auf Green IT und die Hilfe der Natur. Zu Besuch in einem der größten – und grünsten – Rechenzentren des Baltikums. 

Von Sarah Bloos aus Estland

Auf einer Straße, knapp eine halbe Stunde stadtauswärts der estnischen Hauptstadt Tallinn. Die Sonne strahlt vom blauen Himmel. Ungewöhnlich – sonst herrscht hier fast das ganze Jahr über Novemberwetter. Gemeinsam mit Siemens besucht ein Pressekonvoi heute eines der modernsten Rechenzentren des Baltikums: Das Greenergy Data Center (GDC) rühmt sich nicht nur ob hoher Sicherheitsvorkehrungen, sondern wirbt besonders mit Nachhaltigkeit – nicht gerade das, wofür Rechenzentren eigentlich bekannt sind. 

Wir können unser Ziel bereits von weitem erspähen: Mitten auf einer grünen Anhöhe thront das GDC, ein einsamer grauer Bauklotz, hinter dessen Mauern die sensibelsten Daten von Banken, Versicherungen und Unternehmen gespeichert sind. Nichts von dem, was wir hier sehen, ist zufällig: Lage, Bauart, Energieversorgung – all das wurde bis ins kleinste Detail sorgfältig durchdacht. So befindet sich das Gebäude beispielsweise inmitten einer Flugverbotszone und neben dem größten Umspannwerk der Gegend. Von nahem gleicht das GDC einer verglasten Festung: Viel Glas, mehr Beton und dicke Wände. Um das Areal zäunt sich ein knapp zwei Meter hohes, stählernes Gefängnisgitter, an dessen Zinnen Infrarotsensoren und Kameras angebracht sind. Betreten darf das Rechenzentrum nur, wer mehrere Sicherheitskontrollen durchläuft. Fotografieren ist auf dem Gelände aus Sicherheitsgründen ebenfalls verboten. 

Vom Reißbrett zum Vorbildprojekt

Innen begrüßt die Besucher*innen Kert Evert, Mitgründer und Leiter der Abteilung Innovation and Development des Betreibers des Greenergy Data Centers. Evert selbst war früher in der Telekommunikationsbranche tätig, die Idee zum GDC wurde aus der Not geboren. Zu seiner Zeit habe es kein Rechenzentrum dieser Art gegeben: »Je mehr ich danach suchte, desto überzeugter war ich, dass ich die Dinge selbst in die Hand nehmen muss«, erzählt Evert. Die ersten Entwürfe zeichnete er Start-up-klassisch auf eine Serviette. 

Heute, sieben Jahre später, gehört das Greenergy Data Center zu den progressivsten Rechenzentren Estlands. Man geht mit der Zeit – Berater Jaano Juhmen von Siemens schätzt, dass rund 70 Prozent aller Organisationen CO2-Neutralität voraussetzen. Dafür sind sie hier an der richtigen Adresse, denn das GDC wird nicht nur vollständig mit grünem Strom betrieben, sondern verbraucht auch rund 25 Prozent weniger Energie als der Mitbewerb. 

Belegt wird das durch den sogenannten PUE-Wert (Power Usage Effectiveness). Er setzt den gesamten Energieverbrauch ins Verhältnis zum Energieverbrauch der IT-relevanten Geräte und gibt an, wie effizient ein Rechenzentrum mit seiner Energie haushaltet. Während das GDC einen PUE-Wert unter 1,2 erreicht, liegt der Branchenstandard bei rund 1,3. Möglich wird das durch intelligente Systeme und besonders durch das kühle estnische Wetter. 

Das Wetter in Estland lässt sich am besten als nasskalt und ungemütlich beschreiben. Für Rechenzentren bietet das Baltikum aber gerade darum perfekte Wetterbedingungen.

Mit Kühlföhn gegen die Abwärme

Wir dürfen uns ein eigenes Bild machen. Das Rechenzentrum hat ein ausgeklügeltes Sicherheitssystem, anstelle von Türen passieren wir mehrere raumschiffartige Schleusen. Die Dimensionen überraschen: Neben den eigentlichen Daten werden für Notfälle auch ihre Duplikate hier aufbewahrt; dafür hat man durch zusätzliche Kapazitäten vorgesorgt. Unsere Gruppe läuft durch den kühlen Betongang zum ersten Serverraum. Hier ist es gefühlt wesentlich wärmer – man kann nur ahnen, wie viel Energie gerade über die Speicherplatinen brutzelt.

Generell wird rund ein Fünftel des gesamten Energiebedarfs eines Rechenzentrums für die Kühlung der Serverräume benötigt, selbst bei der Konsolidierung von Speicherplatz. Im GDC nutzt man dafür allein die kalte Außenluft: Durch ein isoliertes Ventilatoren- und Rohrsystem wird sie eingesaugt und ins Innere geleitet. Estland eignet sich klimatisch besonders für solche Luftkühlungssysteme, nur an ein paar hundert Stunden pro Jahr muss zusätzlich nachgeholfen werden. Weil für die Kühlung kein Wasser verschwendet wird, ist das System deutlich umweltschonender – und gratis noch dazu.

Zusammen mit Siemens hat man noch eine weitere smarte Lösung implementiert: Die einzelnen Serverschränke wurden mit Sensoren versehen, die in Echtzeit überwachen, wie viel Energie zu den Server-Racks fließt. Denn steigt der Energieverbrauch, steigt in der Regel auch die Temperatur. Ein überlasteter Server – ein Hotspot – wird von einem KI-System sofort erkannt und standortgenau gezielt mit kalter Luft beblasen. Wie viel Abkühlung ein Server braucht, berechnen die Algorithmen im Hintergrund selbst. Wer sich direkt vor einen Server stellt, spürt den Temperaturunterschied tatsächlich sofort. 

Im echten Rechenzentrum blinken Server weitaus weniger als auf Stock-­Fotos. Die Realität ist aber nicht weniger spannend: Mithilfe tausender ­Sensoren reguliert eine KI Umgebung und Konditionen der Server und ­sendet im Notfall einen Alarm.

In der 14.500 Quadratmeter großen Anlage sind knapp 3.000 solcher Umweltsensoren verteilt. Das sei deutlich energieeffizienter als den gesamten Serverraum ständig auf eine Temperatur herunterzukühlen, erklärt Jaano Juhmen. Das GDC konnte seinen Verbrauch an Kühlenergie mit dieser Methode noch einmal um rund 30 Prozent senken. 

Evers Vision

Die Idee vom grünen Internet scheint damit ein Stück näher gerückt zu sein. Zwar verbraucht auch das GDC rund 6 MWh täglich, durch das smarte Energiesystem lässt sich das aber immerhin begrenzen. Es gibt noch mehr mögliche Einsatzszenarien: Gründer Kurt Evers plant Investitionen in eine Photovoltaik-Anlage, auch die Teilnahme am Energiereservemarkt sei möglich. Das GDC nutzt jetzt bereits die Abwärme der IT für die Heizung der eigenen Büros – theoretisch könnte sie auch für Fernwärme genutzt werden, ähnlich wie in der Wiener Klinik Floridsdorf. Man sei bereits mit der Stadt im Gespräch. Und über ein eigenes Gewächshaus auf dem Gelände habe er auch schon nachgedacht, grinst Evers. 

Aber er will noch mehr: Nach dem GDC sollen weitere Rechenzentren in Nord- und Osteuropa folgen. Der Plan sei, diese über eine zentrale Operationsplattform miteinander zu verbinden: »Mehrere Standorte können dann von einem einzigen Ort aus gesteuert werden. Zum Erfolg gehört natürlich, die einzelnen Standorte zu optimieren. Sollte aber ein Standort ausfallen, bleibt der Rest davon verschont, das System funktioniert noch, und nichts geht verloren. Das System kann sich selbst ›überflüssig‹ machen.« Auch darauf werde man in den kommenden Jahren hinarbeiten. 

Gründer Kurt Evers hat große Visionen für das Greenergy Data Center. Zwei Erweiterungsbauten neben dem Hauptgebäude sind bereits in Planung.

Die Schlüsselkriterien für die Rechenzentren der Gegenwart – und vielleicht auch der Zukunft – scheinen damit gesetzt: Absolute Sicherheit, und damit auch eine schrittweise Unabhängigkeit vom lokalen Energienetz, vereint mit einem wachsenden Maß an Nachhaltigkeit. Der Blick nach Estland zeigt, dass das Bewusstsein fürs Klima (oder zumindest Energieeffizienz) in der IT-Branche wächst: Ein wichtiger Schritt – besonders deswegen, weil wir in Sachen Digitalisierung erst am Anfang stehen.

Ob es jemals vollständig grüne Rechenzentren geben wird? Noch jedenfalls stehen dem rein technische Hürden im Weg. Zum Beispiel im Falle eines Blackouts: Dann nämlich werden im GDC die Dieselgeneratoren angeworfen. Eine Lithiumbatterie wäre aufgrund der Brandgefahr (noch) zu gefährlich.




Kontrollraum des "Greenergy Data Center" in Tallin, Estland.

(Fotos: Greenergy Data Center)

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