Mittwoch, Mai 15, 2024

Warum die Entwicklung von Technologie den Gesetzen der Evolution folgt, wie sich unsere Vorstellungen der Zukunft ändern und warum es heute deutlich weniger Durchbruchsinnovation gibt als im 19. Jahrhundert, erklärt Zukunftsforscher Matthias Horx im Interview.

Report: Wer von Zukunft spricht, spricht immer auch über Technik. Jede Zukunftsvision, jede Utopie ist eng an einen technologischen Fortschritt geknüpft, etwa fliegende Autos oder denkende Roboter. In Ihrem Buch »Technolution« gehen Sie mit dieser Denkweise hart ins Gericht. Warum?
Mattias Horx: Ganz einfach, weil Zukunftstechnologien und Technologieentwicklung nicht linear ablaufen. Was ich in meinem Buch versuche, ist, die evolutionäre Denkweise über Zukunftstechnologien ins Spiel zu bringen. In der utopischen Vorstellung des Normalbürgers wird immer alles glänzender, immer alles schneller. Aber genauso funktioniert technologische Entwicklung nicht, sondern vielmehr nach evolutionären Gesichtspunkten. Nach Maßstäben von Adaption, Variation und auch Aussterben.

Report: Können Sie diesen evolutionären Ansatz an einem Beispiel festmachen?
Horx: Am Beispiel Handy kann man viele Phänomene der technischen Evolution studieren. Wie in der Natur gibt es auch hier Spezialisten und Universalisten. In vielen Fällen tritt dann das Schweizer-Messer-Syndrom zu Tage. Je mehr ein Gerät kann, desto seltener wird es benutzt. So wie viele Handys, die alles können, aber nichts richtig. Diese Handys verschwinden am schnellsten wieder vom Markt. Es gibt hier eine Überkomplexitätskrise, die durch das Aussterben von ganzen Gerätegenerationen bereinigt wird.

Report: Dieser Punkt scheint aber noch nicht erreicht. Wenn man sich die aktuellen Handys ansieht, dann ist der Trend zur Überfrachtung ungebrochen.

Horx: Ja, aber dafür zahlen sie den Preis, den sie auch in der Evolution zahlen müssen: eine geringe Lebenserwartung. Das treibt auch die gesamte Handyindustrie in die Krise. Ein innovatives Handy zu entwickeln, kostet heute rund 100 Millionen Dollar. Das rechnet sich nur, wenn ein Gerät länger am Markt ist. Das ist aber nicht der Fall. Das wird letztendlich zu einer Strukturkrise der gesamten Branche führen.

Report: Mit anderen Worten, die Zeit der Universalisten ist vorbei?
Horx: Wahrscheinlich, aber es gibt natürlich auch elegante Universalisten. Wenn man humanfreundlich ist, trifft das ja auch auf den Menschen zu. Auch das iPhone ist ein Beispiel für einen eleganten Universalisten. Hier wurde eine völlig neue Bedienlogik entwickelt, die sich den Bedürfnissen des menschlichen Nutzers anpasst. Aus diesen Überlegungen kann eine völlig neue Spezies entstehen. Das ist allerdings enorm aufwendig, weil man sich genau überlegen muss, wie Menschen Technologie benutzen. Das Problem ist, dass Technik fast immer von Technikern weiterentwickelt wird. Und das führt unweigerlich in eine Sackgasse.

Report: Ihr Buch trägt den Untertitel »Wie unsere Zukunft sich entwickelt«. Das schürt die Erwartung, dass Sie vorgefertigte Konzepte und Prognosen liefern, aber ist Ihr Buch nicht vielmehr eine Kritik an der aktuellen Technikentwicklung?

Horx: Ein großes Problem der Prognostik ist, dass sich wirklich komplexe Zusammenhänge nicht voraussagen lassen. Und dazu zählt die Evolution. Wir können aber die Gesetze von Wandel und Fortschritt besser verstehen und damit zukunftskompetenter werden. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie Handys in fünf Jahren aussehen werden, aber ich kann bestimmte Evolutionsbäume als wahrscheinlicher erachten und andere ausschließen. Es hat in der Vergangenheit viele Technikprognosen gegeben, die fürchterlich danebengelegen sind. Vor allem dann, wenn Sie von technischen Spezialisten ausgesprochen wurden. Deren Problem ist es, dass sie sich der Thematik immer nur von technischer Seite nähern, die menschliche Komponente aber völlig außer Acht lassen.

Report: Woran liegt es nun, ob sich eine Technologie durchsetzt oder nicht?

Horx: Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Denn dabei geht es immer um die Wechselwirkung zwischen Artefakten und den dahinterliegenden Systemen. Es gibt viele per se sinnvolle Entwicklungen, die sich nicht durchsetzen. Denken Sie etwa an Magnetschwebebahnen, die seit den 60er-Jahren fixer Bestandteil von Zukunftsvorstellungen sind. Und das auch zu Recht, denn sie sind schneller und eleganter als herkömmliche Züge, aber sie haben den einen, großen Nachteil, dass sie die gesamte Infrastruktur des bestehenden Schienennetzes gegen sich haben. Das Beispiel Magnetschwebebahnen zeigt nachdrücklich, dass technologische Entwicklungen immer im Kontext von menschlichen Entwicklungen und ökonomischen Interessen betrachtet werden müssen. Und diese ökonomischen Interessen haben leider oft die Angewohnheit, neue Technologien zu behindern. In China kann ein viel moderneres Schienennetz aufgebaut werden als in Europa oder den USA, weil noch kein flächendeckendes System vorhanden ist.

Report: Wie ändern sich Zukunftsvorstellungen?
Horx: Jede Zeit hat ihre Utopie. Wir lassen jetzt eine Zeit hinter uns, in der Technologie ein starkes utopisches Element darstellt. Das war eine Zeit, in der männliche Technologie, Toys for Boys eine große Sehnsuchtskraft entwickelt haben und die Gesellschaft in ihren Zukunftsvorstellungen geformt haben. Dabei geht es fast immer um Beschleunigung und Eroberung. Heute aber haben wir ganz andere Rahmenbedingungen als noch vor wenigen Jahrzehnten. Es geht nicht mehr um die Eroberung des Weltalls, sondern um die Lösung der Umweltproblematik oder die Bekämpfung des Hungers. Und da wird Technologie eine große Rolle spielen, etwa in Form der Solarenergie oder der Meerwasserentsalzung. Das sind keine klassischen Beschleunigungstechnologien mehr, sondern nachhaltige Technologien, die jetzt sexy werden. Das hängt auch mit einem Wertewandel zusammen. Große, benzinfressende Fahrzeuge waren lange Zeit sexy und ein wichtiges Statussymbol. Heute nicht mehr, heute haben Hybridfahrzeuge diesen Stellenwert.

Report: Sie zitieren in Ihrem Buch den amerikanischen Physiker Jonathan Huebner, der zu dem Schluss gekommen ist, dass die Anzahl der Durchbruchsinnovationen seit den 20er-Jahren kontinuierlich abnimmt. Das widerspricht fundamental der Alltags­überzeugung, dass sich die Technik nie so rasend entwickelt hat wie heute.
Horx: Es ist eine Sinnestäuschung, dass wir glauben, dass wir immer mehr technische Erfindungen um uns haben. Wir haben einige wichtige Weiterentwicklungen und Verbesserungen, dazu ein paar echte Durchbrüche wie das Internet oder GPS. Aber in Bezug auf durchschlagende, grundlegend verändernde Technologien war das 19. Jahrhundert viel sensationeller. Innerhalb von relativ kurzer Zeit wurden mit dem Auto, dem Flugzeug, dem Telefon und der Elektrizität vier Großerfindungen Realität. Das waren wirklich beschleunigende Phasen der Technologie. Heute müssen wir für jeden Durchbruch Milliarden in die Grundlagenforschung investieren. Bis die Nanotechnologie effektiv angewandt werden kann, werden noch Jahrzehnte vergehen. Die Zyklen der technischen Innovation kühlen sich immer mehr ab. Die Frage der näheren Zukunft wird daher sein, wie wir die bestehenden Technologien intelligent verknüpfen, um daraus reale Lebensqualität zu gewinnen.

Report: Was entgegnen Sie Kritikern, die in der Zukunftsforschung nichts anderes als Kaffeesudleserei sehen?
Horx: Nichts, denn ich weiß ja, woher die Kritik kommt. Es gibt zwei Gruppen von Kritikern. Zum einen Leute, die noch nichts von mir gelesen haben und kaum Ahnung von der Materie haben. Das sind in der Regel die aggressivsten Angriffe. Zum anderen sind es natürlich Konkurrenten aus dem Wissenschafts- und Beratungsumfeld, die ihre Felle davonschwimmen sehen. Wer sich ernsthaft mit meiner Arbeit auseinandersetzt, wird schnell merken, dass ich nur selten klassische Prognosen abgebe. Das interessiert mich auch nicht. Ich sehe meine Aufgabe im Herstellen von Zusammenhängen, im Verstehen von Wandlungsprozessen. Da können Prognosen hilfreich sein, aber im Grunde genommen sind sie uninteressant, weil es den Vergessenseffekt gibt. Ich habe einmal auf einer Veranstaltung den großen Fehler gemacht, in mein Statement ein »Wie ich schon vor zehn Jahren gesagt habe ...« einfließen zu lassen. Die Reaktionen waren verheerend, ich wurde als arroganter Idiot abgestempelt. Was ich damit sagen will, ist, es gibt nichts Älteres als die Prognose von gestern. Umgekehrt muss man aber aufpassen, dass man sich keine großen Fehler erlaubt. Wenn ich mehrmals heftig danebenliege, dann darf ich mich in der Öffentlichkeit nicht mehr blicken lassen.

Report: Gab es diese krassen Fehler in Ihrer Karriere?

Horx: Eigentlich nicht, aber natürlich gab es die eine oder andere Fehleinschätzung. Ich muss ehrlich sagen, dass es mir nicht gelungen ist, die vollen Konsequenzen von Ereignissen wie dem 11. September vorauszusehen. Auch die Vehemenz, mit der die Finanzkrise sich auf alle Bereiche der Wirtschaft ausdehnt, habe ich so nicht gesehen. Wie viele andere auch, wussten meine Mitarbeiter und ich, dass es eine Blase gibt, die irgendwann platzen wird. Von der enormen Kettenreaktion waren wir dann aber doch überrascht.

Report: Gibt es Einschätzungen und Prognosen, auf die Sie im Nachhinein besonders stolz sind?

Horx: Es geht mir nicht um das Vorhersagen von Ereignissen oder Events. Ich glaube aber schon, dass ich einige Entwicklungen sehr früh und vor allem richtig erkannt habe, so zum Beispiel den demografischen Wandel. Der hat in den 90er-Jahren noch kaum jemanden interessiert. Oder der Siegeszug von Bio-Food. Da haben uns die Lebensmittelhersteller noch vor zehn Jahren gesagt, dass es sich dabei nur um einen Hippie-Müsli-Sektor handelt und dass das auch in Zukunft so bleiben wird. Stolz kann man dann empfinden, wenn man im Widerspruch zur herrschenden Lehrmeinung gestanden ist und starken Gegenwind ausgehalten hat. Ich habe Ende der 90er-Jahre bei einer Internetkonferenz gesagt, dass das Internet kein Massenmedium wird. Dafür wurde ich heftig angefeindet, auch deswegen, weil meine Aussagen in den Medien stark verkürzt wiedergegeben wurden. Was ich damals meinte, ist, dass das Internet auf einer anderen Ebene funktioniert als klassische elektronische Massenmediengeräte. Es wird viel länger dauern als angenommen, bis das Internet ein für alle Bevölkerungsteile erschlossenes Medium wird, viel länger als bei beim Fernsehen oder beim Radio. Diese Meinung in der Blütezeit der dot.com-Blase zu vertreten, war schon sehr schwierig.

Report: Eine Frage ist so unvermeidlich wie das Amen im Gebet und Sie haben sie wahrscheinlich schon sehr, sehr oft gestellt bekommen. Herr Horx, was wird uns das Jahr 2009 bringen?

Horx: Diese Frage habe ich tatsächlich schon allzu oft beantworten müssen. Es fällt mir aber schwer, denn ich denke nicht in Jahreszahlen. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass uns die nähere Zukunft eine intensive und längst überfällige Auseinandersetzung mit unserem Wohlstands- und Ökonomiemodell bringen wird. Wir erkennen in der jetzigen Phase, dass viele der ökonomischen Prozesse, die für den Wohlstand der letzten Jahre gesorgt haben, in ihrem tiefsten Inneren »faul« waren. Die Banken sind wie ein Symbol für die Schieflage unserer Wirtschaft. Das Problem ist, dass wir in fast allen Sektoren zu wenig echte Innovation betrieben haben. Eine Krise ist immer auch der Ausdruck einer strukturellen Innovationskrise. Die Banken haben keine wirklich neuen Formen von Finanzdienstleistungen entwickelt und die Autobranche hat im Grunde genommen auch nichts anderes gemacht, als immer nur dieselben Autos weiter zu bauen, statt neue Mobilitätskonzepte abseits des Öls zu entwickeln. Der globale Wirtschaftsboom hat viele Branchen fett und gefräßig gemacht. So kann es nicht weitergehen. Was wir brauchen, ist eine innovative Gründerzeit, wie in den Jahren um 1900 oder in der Nachkriegszeit.

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