Samstag, April 20, 2024

Auf vielfältigen Wegen durch die Systemwende: Innovationen für eine klimaneutrale Zukunft waren Kern des Symposiums »EnInnov 2022« im Februar in der TU Graz.


Bis 2050 soll Europa der erste klimaneutrale Kontinent der Welt werden. Den Weg dahin bildet bildlich gesprochen keine breite Autobahn, sondern eine Vielzahl an Landstraßen, die sich schneiden und ergänzen. Benötigt werden die Integration hoher Anteile erneuerbarer Energie in das Gesamtenergiesystem, neue Marktteilnehmer*innen wie Prosumer, Aggregator*innen und Energiegemeinschaften, aber auch Anpassungen der Elektrizitätsmärkte sowie des Regulierungsregimes, eine verstärkte Flexibilisierung der Erzeugung und der Nachfrage, mehr Energiespeicheroptionen, die Kopplung unterschiedlicher Sektoren, eine Fortentwicklung zukunftssicherer Übertragungs- und Verteilnetzinfrastrukturen sowie Veränderungen im Gebäude- und Mobilitätssektor.

Die erforderliche Energiearchitektur hänge wesentlich von jetzt zu treffenden infrastrukturellen und energiewirtschaftlichen Entscheidungen ab, war eine der zentralen Feststellungen des digital veranstalteten Symposiums »EnInnov – Future of Energy, Innovationen für eine klimaneutrale Zukunft« in der TU Graz.

Dass dringend Schritte gesetzt werden müssen, wird angesichts der Preisrallye an den Energiegroßhandelsmärkten deutlich, die alle Energieträger betrifft. Der österreichische Strompreisindex stieg laut der Österreichischen Energieagentur im April gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres um über 200 Prozent, der Gaspreisindex lag um 465 Prozent höher.

»Aufgrund der zunehmenden Sektorkopplung und der damit verbundenen Elektrifizierung großer Bereiche aus Industrie, Verkehr und Wärmeversorgung nimmt der Stromverbrauch in den nächsten Jahrzehnten deutlich zu«, eröffnete Bernhard Thaler vom Large Engines Competence Center Graz, LEC, seinen Beitrag zu Simulation und Analyse des österreichischen Stromsystems 2030 und 2040.

Dafür braucht es den Ausbau von Erzeugungskapazitäten primär aus Wind- und Sonnenenergie sowie gleichzeitig die starke Ausweitung von Speichern und Back-up-Modulen – zum Beispiel dezentrale, schnell abrufbare Rückverstromungseinheiten für Versorgungssicherheit. Am LEC werden Simulations- und Optimierungstools für unterschiedliche Energiesysteme entwickelt. Thaler nennt in diesem Zusammenhang das Simulationstool LEC ­ENERsim. Mit diesem können unterschiedlichste Energiesysteme, wie auch Kraftwerke oder Mobilitätsanwendungen optimiert und analysiert werden, um einen technologisch effizienten, emissionsarmen und ökonomisch optimalen Betrieb zu ermöglichen.

Einfluss auf den Strommix

Im Fokus vieler Diskussionen rund um den Weg zur Klimaneutralität steht die CO2-Bepreisung. Dazu präsentierte Alexander Burkhardt vom Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung der Universität Stuttgart das Energiesystemmodell Times PanEU, mit dem sich die für Klimaneutralität erforderlichen CO2-Preispfade berechnen lassen. Europaweit gibt es einen CO2-Preis teilweise in Form des Europäischen Emissionshandelssystems, EU-ETS.

Alexander Burkhardt, Universität Stuttgart: »Im Verkehrssektor entfalten hohe CO2-Preise eine deutlich stärkere Wirkung.«

Daneben gelten nationale Preise für einzelne Sektoren, in Deutschland etwa seit 2021 für die Sektoren Verkehr und Gebäude. Die Modellierung mit Times PanEU hat ergeben, dass eine tiefe Dekarbonisierung nur mit sehr hohen CO2-Preisen möglich ist – bei niedrigen dominiert weiterhin fossiles Erdgas den Energieverbrauch im Haushaltssektor. Ölheizungen werden jedoch größtenteils verdrängt.

Im Verkehrssektor entfalten hohe CO2-Preise eine deutlich stärkere Wirkung. Elektroautos setzen sich auch durch die zu erwartende Kostendegression und die derzeit stark steigenden Produktionsmengen schon bei relativ niedrigen CO2-Preisen gegenüber anderen Technologien durch. Für LKW hingegen sind deutlich höhere Preise nötig, um die vollständige Defossilisierung anzuregen.

Fußabdruck der Netzbetreiber

»Bei Netzbetreibern entfallen 84 Prozent der CO2-Emissionen auf Netzverluste, die durch den elektrischen Energietransport durch das Verteilnetz entstehen«, informiert Professor Lars Jendernalik vom deutschen Verteilnetzbetreiber Westnetz. Die Integration regenerativer Energien ist daher ein wesentliches Anliegen der Netzbetreiber.

Westnetz hat bereits ein großes Spektrum an Handlungsoptionen erarbeitet, darunter fallen die Förderung von Biodiversität durch ökologisches Trassenmanagement, die Elektrifizierung des Fuhrparks und die möglichst nachhaltige Gestaltung von Betriebsmitteln, beispielsweise Isolationsöl in Transformatoren, SF6-freie Schaltanlagen, GreenCable, Optosensorik, Photovoltaik zur Eigenbedarfserzeugung, Recyclingbeton sowie Wärme- und Kältemanagement in Netzstationen.

Flexibilität benötigt

Bis 2030 soll Strom in Österreich zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen stammen. »Dieser Strukturwandel führt dazu, dass Prosumer und andere kleinteilige Ressourcen auf den unteren Spannungsebenen das Stromsystem durchdringen und es zunehmend dezentralisieren aber auch volatiler machen«, betont Markus Riegler von Austrian Power Grid. Es bedarf hoher Flexibilität im Netz und der Möglichkeit, bestehende lokale Flexibilitätsressourcen zu nutzen.

Markus Riegler, Austrian Power Grid: »Brauchen die Möglichkeit, bestehende lokale Flexibilitätsressourcen zu nutzen.«

Von der APG wird daher im Rahmen der vertikalen Marktintegration eine einheitliche österreichweite Kommunikationsplattform zwischen Anbietern mit flexiblen Assets und dem bestehenden Sekundärregel­energiemarkt aufgebaut. Als erste Version wird derzeit ein Minimal Viable Product umgesetzt, das die Ankopplung dezentraler Flexibilitäten an den bestehenden Sekundärregelenergiemarkt ermöglicht. In den darauffolgenden Schritten wird die Anbindung zu weiteren Regelreservemärkten über dieselbe Schnittstelle realisiert.

Auch Anna Traupmann von der Montanuniversität Leoben warf einen Blick in die Zukunft. »Kohleverbrennung deckt heute 37 Prozent des globalen Stromverbrauchs, ist jedoch die kohlenstoffintensivste fossile Energieerzeugung und damit für 30 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich.« Um eine Dekarbonisierung im europäischen Elektrizitätssystem zu erreichen, ist der sogenannte Coal Phase-Out, eine zeitlich gestaffelte Schließung der Kohlekraftwerke, erforderlich. Dabei dürfe man aber nicht auf die sich bietende Nachnutzung der Standorte vergessen.

Anna Traupmann, Montanuniversität Leoben: »Nicht auf die Nachnutzung von Kohlekraftwerkstandorten verzichten.«

Infrastrukturell gesehen stellen Kohlekraftwerksstandorte optimale Netzpunkte für zukünftige Technologien dar, etwa für die Sektorenkopplung. Sie können im zukünftigen Energiesystem sowohl für erhöhte Systemflexibilität als auch Systemstabilität dienen. Dazu läuft derzeit eine Vielzahl an Projekten von europäischen und nationalen Fördergebern, beispielsweise RECPP und GreenDealCO2.

Der geschätzte Wert dieser funktionsfähigen, aber dann nicht mehr eingesetzten Assets soll 2030 in Europa 25,56 Mrd. Euro betragen – nach hochgerechneten Werten für Europa aus den für Deutschland angegebenen Daten –, unter der Annahme, dass bis dahin 63 Prozent der europäischen Kohlekraftwerke stillgelegt wurden. Daher ist es aus technischer und aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll, die Standorte ehemaliger Kohlekraftwerke und ihre noch immer einsetzbaren Assets weiter zu nutzen.

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