Es ist die Europäische Kommission und nicht die Wirtschaft, die eine notwendige Kurskorrektur von Industrie 4.0 ins Spiel bringt. Was soll sich ändern? Die Inhalte von Industrie 5.0 sind nicht technischer Natur und nicht unmittelbar mit Effizienzsteigerungen verknüpft, wohl aber mit der Überlebensfähigkeit von Unternehmen.
Die Ideen von Industrie 4.0 sind nun gut zehn Jahre alt und seitdem streben fast alle Unternehmen nach noch mehr Digitalisierung und dem Einsatz digitaler Technologien. Zudem existiert die falsche Annahme, Industrie 4.0 sei primär Automatisierung. Auch Digitalisierung greift zu kurz, das habe ich als junger Student getan, als ich meine alten Kompakt-Tapes auf CD kopiert habe. Industrie 4.0 ist im Wesentlichen die Vernetzung digital operierender Systeme in Produktion und Logistik.
Ein Rückblick
Wenn es Industrie 4.0 gibt, muss es auch 1.0, 2.0 und 3.0 geben:
– Industrie 1.0: Die Dampfmaschine ermöglicht das Bewegen viel größerer Lasten und erweitert die Möglichkeiten verglichen mit denen, die man mit der Kraft von Menschen und Zugtieren hatte.
– Industrie 2.0: Erste Automatisierungsabläufe wie zum Beispiel das Fließband, das besonders durch Henry Ford in der Automobilindustrie bekannt – aber keineswegs von ihm entwickelt – wurde. Das eröffnete Möglichkeiten der Massenproduktion und entlastete die Mitarbeitenden.
– Industrie 3.0: Die Effizienzsteigerung durch computergestützte Abläufe wie zum Beispiel CNC-Systeme, bei denen ganze Fertigungsabläufe aufgrund eines Programms stabil und reproduzierbar umgesetzt werden konnten. Dies wurde ab den 1970er Jahren möglich.
Industrie 4.0 wurde erstmalig von wirtschaftsnahen Wissenschaftlern auf der Industriemesse in Hannover 2011 ins Spiel gebracht. Damit benannte man eine industrielle Revolution, die zu dem Zeitpunkt noch gar nicht stattgefunden hat. Man prognostizierte lediglich aufgrund von Annahmen über technologische Möglichkeiten der Gegenwart und der absehbaren Zukunft etwas wie eine industrielle Revolution.
Komplex, komplexer
Die oben erwähnten Missverständnisse hinsichtlich der tatsächlichen Bedeutung von Industrie 4.0 sind das kleinste Problem. Die viel größeren Probleme waren und sind noch heute die resultierenden Konsequenzen und Entscheidungen.
– Unternehmenslenker*innen sehen in den digitalen Technologien nicht selten ein Werkzeug, um noch weiter zu rationalisieren und Kosten einzusparen. Ich habe selbst viele Diskussionen innerhalb von Unternehmen und auf Tagungen erlebt, in denen völlig schmerzfrei überlegt wurde, wann sich eine Automatisierung rechnet, indem man dafür Leute entließe und so lästige Personalkosten sockelwirksam einsparen könnte.
Auf Irrwegen
Aktivitäten rund um Industrie 4.0 haben nicht selten zu völligen Irrwegen und mitunter auch Katastrophen geführt. Man hat digitale und vernetzte Technologien eingesetzt, ohne die tatsächlichen Kundenbedürfnisse, die immer emotionaler Natur sind, und die dafür notwendigen Lösungen und Prozesse zu verstehen und zu hinterfragen. Implementierungen wurden und werden oft nur deshalb vorgenommen, weil man sich Effizienzsteigerung und Kosteneffekte verspricht. Zudem ist es sehr angesagt, möglichst viel mit digitalen Technologien abzubilden, egal wie sinnlos und wie gering der Mehrwert ist.
Am Ende kommen meist Menschen unter die Räder. Entweder verschwinden ihre Arbeitsplätze, weil Maschinen diese übernehmen und das oft nicht besser, meist sogar schlechter. Oder die Arbeitsbedingungen werden schlechter, weil die Komplexität kaum zu handhaben ist. Alles in allem muss man im Kontext von Industrie 4.0 feststellen, dass zu viel an der eigentlichen Zielgruppe vorbei gemacht wurde, nämlich den Menschen – dies- und jenseits des Vertriebs.
Willkommen in der neuen Welt: Industrie 5.0
Auch wenn es „Industrie 5.0" heißt, so sollte man nicht davon ausgehen, es handle sich hier um eine fünfte industrielle Revolution. Die Ideen, die unter diesem Label kursieren, sind genaugenommen eine längst überfällige Kurskorrektur der Fehler von Industrie 4.0. Man könnte es daher genauso gut „Industrie 4.1" nennen. Aber Namen sind Schall und Rauch, es geht um das, was drinsteckt:
– Menschzentrierung: Der Mensch soll im Zentrum stehen. Eine Einsicht, die eigentlich für jede Unternehmer*in selbstverständlich sein sollte – eigentlich. Es gibt eine Vielzahl an Beispielen, bei denen offensichtlich ist, dass es primär um schnellen Profit geht. Jetzt werden einige vielleicht fragen, worum es sonst gehen soll. Und das unterscheidet Unternehmer*innen von Manager*innen. Unternehmer*innen sind sich darüber im Klaren, dass ihr Gehalt und die Existenz ihres Unternehmens von den Kund*innen bezahlt und von den Mitarbeitenden erzeugt wird. Sieht man diese nur als notwendiges Übel zur Maximierung des eigenen Profits, wird man früher oder später ein Problem bekommen. Jede Veränderung und damit auch der Einsatz neuer Technologien muss vor dem Hintergrund der sichtbaren oder angenommenen Bedürfnisse aller beteiligten Menschen entschieden werden. Und wenn die Menschen nur als Ressourcen gesehen werden, die man möglichst einspart, gibt es irgendwann niemanden mehr, der die Produkte und Dienstleistungen kaufen kann. Und das trifft schlussendlich auch Unternehmen, die nur am B2B Markt auftreten.Bisher ist Industrie 5.0 nur ein Konzept. In einigen Unternehmen lebt es schon, weil die Entscheider*innen unternehmerisch handeln. Bei vielen fehlt die Einsicht. Es ist aber eine notwendige Kurskorrektur, denn Prosperität ist nur mit und nie gegen die Natur und Gesellschaft möglich.
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Hinweis der Report-Redaktion: Mario Buchinger spricht zum Thema Industrie 5.0 auch im aktuellen #RestartThinking Podcast: https://www.buchingerkuduz.com/de/restartthinking-podcast-folge-121-industrie-5-0/
Dr. Mario Buchinger ist Ökonomie-Physiker, Musiker und Autor. Der Spezialist für Veränderungsfähigkeit ist ausgebildeter Lean-Manufacturing-Consultant und war bei Daimler und Bosch als Führungskraft tätig. Dort begleitete der Kaizen- und Lean-Trainer die Organisationen zu einer kontinuierlichen Verbesserungskultur in verschiedensten Bereichen über alle Führungsebenen hinweg. Im Jahr 2014 gründete Mario Buchinger sein eigenes Unternehmen. 15 Jahre Erfahrung aus weltweiten Verbesserungsaktivitäten sowie ein multikultureller Hintergrund bilden einen großen Mehrwert für seine Kunden aus Industrie, Finanz- und Bauwirtschaft sowie öffentlichen Organisationen im In- und Ausland. Im Mai 2020 erscheint das neue Buch von Mario Buchinger "Das Wasserfall-Paradoxon", das Fachbuch für Ihre Wege zur Veränderungsfähigkeit.