Donnerstag, April 25, 2024

Wüstenkäfer, die Schleiereule und Bienenwaben verfügen über herausragende Eigenschaften, die technische Verfahren und Innovationen sich zunutze machen. Bionik steht auch für interdisziplinäres Denken und bringt Expert*innen unterschiedlichster Bereiche zusammen. 

In der namibischen Wüste leben Käfer, die aufgrund der widrigen Lebensbedingungen einen besonderen Trick entwickelt haben. An Tagen mit erhöhter Luftfeuchtigkeit heben der Nebeltrinker-Käfer und andere Artgenossen aus der Familie der Schwarzkäfer ihr Hinterteil hoch gegen den Wind, ähnlich einem Kopfstand. Auf ihrer Körperoberfläche sammeln sich winzige Wassertröpfchen aus der Luft, die Flüssigkeit rinnt zwischen den Deckflügeln hinunter direkt in die Mundöffnung. Forscher*innen nehmen sich dieses Prinzip zum Vorbild, um das Trinkwasserproblem in südlichen Ländern zu lösen.

So installierte die kanadische Non-Profit-Organisation FogQuest am Rande der Atacama-Wüste in Chile spezielle Netze, deren Struktur dem Rücken des Käfers nachempfunden ist. An den noppenartigen Maschen kondensiert das Wasser. An der Kunstakademie Stuttgart entwarf ein Student ein Gebäude mit abstehenden Lamellen, die Schatten spenden und der Luft Feuchtigkeit entziehen. Das gesammelte Wasser wird über die Lamellen ins Gebäude geleitet und kühlt dieses im Sommer auf angenehme Temperaturen ab. Der Baustoffhersteller Sto entwickelte eine bionische Fassadenfarbe nach dem Vorbild des Nebeltrinker-Käfers: Die hydrophil-hydrophobe Mikrostruktur, die sich während der Trocknungsphase bildet, führt das durch Tau und Nebel entstandene Wasser an der Fassade rasch ab. Die Fassadenoberfläche trocknet dadurch deutlich schneller und ist resistenter gegen Algen und Pilze.

Der Baustoffhersteller Sto entwickelte nach dem Vorbild des Nebeltrinker-Käfers eine Fassadenfarbe, die das Wasser rasch ableitet. (Bild: Sto)

Auch ein Team des Forschungszentrums Mikrotechnik der FH Vorarlberg beschäftigt sich intensiv mit den Superkräften des Käfers. Gemeinsam mit dem Unternehmenspartner High Q Laser werden weitere Anwendungen für eine Lasertechnologie erprobt, die in Industrie und Medizin bereits zum Einsatz kommt. Forscherin Sandra Stroj, heuer mit dem Innovationspreis der Christian-Doppler-Gesellschaft ausgezeichnet, sieht das Potenzial noch nicht ausgeschöpft, vor allem in der Bearbeitung von Werkstoffen. Der ultrakurz gepulste Laserstrahl kann eine präzise Oberflächenstruktur im Nanobereich – also winzige Erhebungen im Mikrometerabstand – schaffen, mit der sich doppelt so viel Wasser sammeln lässt wie eine homogene Oberfläche. Denkbar wäre die Anwendung des inzwischen patentierten Verfahrens beispielsweise für die Herstellung von Glas, das nicht beschlägt, oder Mikroskope, bei denen sich die Probe automatisch an einem hydrophilen Punkt sammelt. 

Bauweltmeisterin Biene

Viele bekannte Produkte werden von uns ganz selbstverständlich im Alltag genutzt – ohne zu ahnen, dass ursprünglich etwa Korbblütler oder die Lotuspflanze als Ideengeber fungierten. Bereits Ende der 1940er-Jahre entwickelte der Schweizer Ingenieur Georges de Mestral den Klettverschluss, der heute als eines der Paradebeispiele für Bionik gilt. Selbstreinigende Oberflächen sind aus der Industrie nicht mehr wegzudenken, seit der Botaniker Wilhelm Barthlott 1976 den »Lotus-Effekt« mithilfe von Rasterelektronenmikroskopie physikalisch nachwies.

Die besondere Struktur von Bienenwaben hat sich überall bewährt, wo leicht und robust gebaut werden muss, beispielsweise in der Luft- und Raumfahrt. Auch das Maschinenbauunternehmen Fill GmbH ließ sich davon inspirieren – genau genommen hatte Karl Metz, Leiter des firmeneigenen Kompetenz Centers Holz, die Idee, diese Konstruktion für die Entwicklung einer neuen Achstechnologie zu erproben. »Früher war es so, dass Ausbesserungsmaschinen fast langsamer waren als der Mensch. Mit Leichtbau-Wabenkern-Achsen können wir nun Anlagen bauen, die den Ansprüchen an geringes Gewicht, konstante Stabilität und schnelle Geschwindigkeit optimal entsprechen«, erklärt Metz. Der sechseckige Wabenkernbau wird inzwischen überall dort eingesetzt, wo gleichverteilte Kraftquellen gegeneinander wirken. Die den Bienenwaben nachempfundene Bauweise mit einem in Wabenform strukturierten Werkstoff bietet nicht nur minimales Gewicht, sondern ermöglicht maximale Stabilität bei geringem Materialverbrauch. 

Die dritte Hand

Leise gleiten die Rotorblätter durch die Lüfte - Vorbild für die Flügel ist eine stille Jägerin, die Schleiereule. Die Geräuschminderung kommt durch die Zacken an der Rotorblattkante, sogenannte Serrations, zustande. (Bild: Wind Tuning Systems)

Auch bei Windkraftanlagen gibt es Bauelemente, für die die Natur Pate stand. Je nach Einsatzgebiet – auf dem Meer oder an Land – kommen gleich zwei Effekte zum Tragen, sofern die Rotorblätter nach dem Vorbild der Schleiereule konstruiert sind. Dank der besonderen Fächerstruktur ihrer Federn gleitet der scheue Vogel fast lautlos durch die Nacht. Nach diesem Prinzip wurde das Design moderner Rotorblätter mit dünnen, gezackten Bauteilen – sogenannten Serrations – ergänzt. Angebracht an der Hinterkante des Rotorblatts verändern sie den geradlinigen Verlauf der Kante, womit das Geräusch der Turbulenzen um eineinhalb bis vier Dezibel verringert werden kann. Bei Offshore-Windkraftanlagen ergibt sich ein zusätzlicher Vorteil: Die Serrations erhöhen, abhängig von Umweltfaktoren, Konstruktion und anderen Bauteilen, die Leistung um bis zu vier Prozent. Für die Form der Windradflügel nahmen Forscher*innen Anleihe bei Buckelwalen, deren gewellte Brustflossen sich als besonders aerodynamisch erwiesen haben.

Der Automatisierungsspezialist Festo setzt bereits seit vielen Jahren auf Bionik – für viele innovative Produkte und Lösungen nahm das Unternehmen Anleihen bei Flora und Fauna. Für die jüngste Innovation diente jedoch der Mensch als Vorbild. 2023 geht der erste pneumatische Cobot in Produktion, der hinsichtlich Energieverbrauch und Bedienbarkeit neue Maßstäbe in der Mensch-Roboter-Kollaboration setzen soll. Der Cobot verfügt mit 670 Millimetern wie ein menschlicher Arm über die ideale Reichweite, um Mitarbeiter*innen als helfende »dritte« Hand zur Seite zu stehen.

Für den pneumatischen Cobot von Festo diente der Mensch als Vorbild. Er soll Mitarbeiter*innen als helfende »dritte« Hand zur Seite stehen. (Bild: Festo)

Durch die pneumatischen Antriebe agiert er feinfühlig, mit situativ angemessener Geschwindigkeit und in flüssigen, harmonischen Bewegungen. Eine Berührung ist so oft wie ein menschlicher Kontakt. »Die gesamte wissenschaftliche Community hat uns gesagt, dass ein pneumatischer Roboter nicht realistisch sei«, erklärt Festo-CEO Oliver Jung nicht ohne Stolz. »Ich bin kein Anhänger von großen Marketingsprüchen, aber für mich als Ingenieur ist das nichts anderes als eine Revolution.«

(Titelbild: iStock)

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