Donnerstag, Dezember 05, 2024

Anni Koubek, Prokuristin für den Bereich Innovation und Business Development Qualität bei Quality Austria, wirkte an der Entwicklung der ISO 9001:2015 mit. Im Report(+)PLUS-Gespräch zieht sie Bilanz und macht Unternehmen Mut zur Selbstreflexion und »gesunden Verbesserung«.

(+) plus: Die Revision der ISO 9001 liegt zwei Jahre zurück. Wie viele Unternehmen haben die neue Norm bereits umgesetzt?

Anni Koubek: Wir dachten ursprünglich, dass die Unternehmen zügiger auf die neue Version umsteigen. Am 15. September begann nun das letzte Jahr, in dem die Umstellung erforderlich wird, und mehr als die Hälfte der Betriebe starten erst jetzt. Das geht sich trotzdem noch gut aus. Viele sagen, sie möchten sich die Zeit nehmen und den Änderungsprozess möglichst gut in den Arbeitsalltag integrieren. Wir empfehlen aber eindringlich, nicht bis in den Herbst 2018 zu warten. Falls nach dem Audit noch etwas zu tun ist, bleibt sonst nicht ausreichend Zeit und das Unternehmen steht plötzlich ohne Zertifikat da.

(+) plus: Sie waren an der Entwicklung maßgeblich beteiligt. Was ist an der neuen Version besser?

Koubek: Das Rad der Zeit hat sich weitergedreht. Auch die alte Norm war gut. Aber wie die Wirtschaft heute arbeitet, welche Herausforderungen sich ergeben, was in diesem globalen, beschleunigten, komplexen Umfeld zu beachten ist, damit Qualität sichergestellt werden kann – da hat sich viel geändert. Es war notwendig, diese Veränderungen zu integrieren. Die Version von 2008 ist in ihrem Kern in den 90er-Jahren entstanden, das System und die Prozesse waren damals die prägenden Elemente. Heute sind die Themen Komplexität und Dynamik vorrangig. Das erfordert eine andere Rolle der Führung, die Beachtung des Kontexts von Risiken und Chancen. Auch das Thema Wissen wird erstmals explizit angesprochen.

(+) plus: Wo hätten Sie sich Änderungen gewünscht?

Koubek: Wir haben sehr intensiv über Innovation und Veränderung diskutiert. Da gab es sehr unterschiedliche Auffassungen, ob man diese Bereitschaft von Firmen verlangen kann und wie weit sie der eigenen Entscheidung überlassen werden sollte. Ich denke, man könnte die Unternehmen durch weitergehende Anforderungen noch besser unterstützen. Aber es geht hier nicht um meine Wünsche. Das ist ein internationaler Verhandlungsprozess, und was für uns der USP ist, sehen Länder in Afrika, Amerika oder Asien oftmals anders.

(+) plus: Wie viele Leute arbeiteten weltweit mit?

Koubek: In den Arbeitsgruppen waren zwei Delegierte pro Land zugelassen. In den Sitzungen beteiligten sich ca. 80 bis 100 Personen aktiv am Schreiben. Die Textfassungen wurden in mehreren Entwurfsstadien jeweils an die Komitees der einzelnen Länder geschickt. In Österreich hat das Normungsinstitut die Entwürfe reflektiert und mit Anmerkungen versehen. Die internationale Arbeitsgruppe bearbeitete dann insgesamt rund 8.000 Kommentare – das war schon Knochenarbeit.

(+) plus: Warum sollte sich ein Unternehmen zertifizieren lassen?

Koubek: Das Zertifikat ist ein Nachweis der eigenen Leistung und Leistungsfähigkeit in Bezug auf Qualität. Gleichzeitig haben die Audits einen internen Nutzen, indem sie wie ein Spiegelbild und Hygienefaktor wirken. Speziell in Zeiten der Veränderung muss man große Anstrengungen unternehmen, um ein neues Ziel zu erreichen. Daneben läuft aber das Tagesgeschäft weiter. Insofern ist dieser Blick von außen sehr gut, weil er die Wechselwirkungen im System sichtbar macht. Das Feedback erfolgt dann auf Basis eines klaren Anforderungsmodells und zeigt auf, wo das Unternehmen sofort Handlungen setzen muss oder wo etwas verbessert werden könnte.

(+) plus: Werden die Audits oft unterschätzt?

Koubek: Nehmen wir unsere Spitzensportler: Wenn jemand so exakt turnt oder Tennis spielt und dann einen Fehler macht, fällt uns das sofort auf. Wir sehen das kleine Korn auf dem Tisch, wenn er spiegelglatt ist, aber nicht, wenn viel herumliegt. Es kommt aufs Niveau an. Je besser und transparenter ein Betrieb dasteht, desto klarer sieht man auch Muster und Chancen. Ein gutes Unternehmen hat eine hohe Selbstreflexionskraft, da kann man punktgenau bei den Potenzialen ansetzen. Wenn ein Unternehmen noch nicht so weit ist, muss man erst sicherstellen, dass es keine Defizite gibt. Das Audit ist wie eine Sprunglatte – über die Anforderungen der ISO 9001 gilt es drüberzuspringen. Wir zeigen auch auf, wo die Stärken des Unternehmens liegen. Der größere Teil sind aber Hinweise auf Bereiche für Verbesserungen. Diese Chance sollte man nutzen, auch wenn es manchmal ein bisschen weh tut.

(+) plus: Bringt die Zertifizierung auch einen Wettbewerbsvorteil?

Koubek: In vielen Branchen oder Bereichen ist eine Zertifizierung erforderlich, um überhaupt anbieten zu können, zum Beispiel bei öffentlichen Ausschreibungen oder weit verbreitet in der Automobilindus­trie. Aber auch in anderen Branchen gibt es viele Unternehmen, die in der Auswahl ihrer Lieferanten jene mit Zertifikaten bevorzugen. Dabei geht es nicht nur um Qualität, sondern zum Beispiel um Umwelt, Arbeitssicherheit, Lebensmittelsicherheit und andere Werte und Standards.

(+) plus: Viele Unternehmen befürchten einen überbordenden bürokratischen Aufwand in den internen Abläufen. Zu Recht?

Koubek: Wenn ich Qualität managen möchte, brauche ich einen gewissen Level von Planung und Nachvollziehbarkeit. Das Bild vom QM-System, das im Regal einen Meter mit Dokumentenordnern belegt, ist aber schon längst überholt. Wir leben in einer digitalen Welt und das Qualitätsmanagement muss sehr nah an diesen Prozessen sein. Ein System sollte möglichst schlank und flexibel gestaltet sein. Jedoch ist es immer ein schmaler Grat: Ich brauche ausreichende Informationen, um die Risiken abzudecken und die Nachvollziehbarkeit zu gewährleis­ten. Wenn zu wenig dokumentiert ist und ein Haftungsfall eintritt, wird es kritisch.

(+) plus: Wie kann man die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für Qualitätssicherheit begeistern?

Koubek: Ich frage immer gerne nach, was sich für die Mitarbeitenden durch das QM-System geändert hat. Da höre ich oft, dass alles klarer, transparenter, nachvollziehbarer ist. Personen, die in andere Unternehmen wechseln, erkennen oft erst dann, was alles nicht funktionieren kann. Man gewöhnt sich daran, dass die Kernprozesse geregelt sind und man nicht über alles diskutieren muss. Diese Klarheit, Transparenz und Durchgängigkeit gibt Sicherheit für das eigene Tun. Das sind wichtige Grundwerte für die Mitarbeitenden. Sie bekommen ihre Köpfe frei für die Zukunftsaufgaben und bleiben nicht in den Kleinigkeiten des Alltags gefangen. Begeistern kann man aber Menschen nur durch Ergebnisse, indem das System funktioniert und lebt. Wenn es wo nicht passt oder man könnte es besser machen, wird das auch gemacht.

(+) plus: Wie lange dauert es, bis das Qualitätsmanagementsystem verankert ist?

Koubek: Das ist von Unternehmen zu Unternehmen sehr unterschiedlich – wo steht man, wie viel Zeit und Kraft wendet man dafür auf, welche weiteren Ziele sind damit verknüpft? In vielen Fällen kann der Transformationsprozess in einem halben Jahr gut bewältigt werden. Aber man darf nie nachlassen: Die Zertifizierung ist nicht das Ende, sondern eher der Anfang. Das ist wie beim Training – eine Zeitlang hat eine Sportlerin, ein Sportler noch eine gute Kondition, irgendwann geht aber die Kurve nach unten. Es gilt dranzubleiben, zu hinterfragen und zu verbessern. Diese Lust, einen Fehler zu bereinigen und etwas neu zu gestalten, hat am Anfang meistens eine sehr große Dynamik. Diesen Drive muss man beibehalten und in die Unternehmens-DNA hineinbekommen.

(+) plus: Lassen die Normen genügend Spielraum für Kreativität?

Koubek: Vielfach wird an der neuen Norm 9001 sogar kritisiert, dass sie zu wenig präskriptiv sei. Die detaillierten Vorgaben – welche genauen Verfahren müssen dokumentiert sein, wie hat ein Entwicklungsprozess im Detail stattzufinden – wurden in der Revision bewusst herausgenommen, um Unterschiedlichkeiten zuzulassen. Die ISO 9001 ist für Unternehmen jeglicher Größe und Branche anwendbar. Für gewisse Anforderungen gibt es Standardlösungen. Aber wenn die für mein Unternehmen nicht passen, kann ich auch einen anderen Weg suchen. Da ist sehr viel Kreativität möglich, denn die Norm sagt nie: So muss es sein.

(+) plus: Befindet sich mit der zunehmenden Komplexität der Aufgaben auch das Berufsbild der Qualitätsmanager im Wandel?

Koubek: Definitiv ja: Das Aufgabengebiet wird immer breiter. Zunächst war die Qualitätssicherung der Kernbereich, später kam das Prozessmanagement als Aufgabe dazu sowie die Wechselwirkungen im Gesamtsys­tem. Jetzt geht es sehr stark um die Anpassung an äußere Veränderungen und um die Unterstützung der strategischen Ausrichtung des Unternehmens. Diese Weitsicht ist gefragt.

Es wäre aber ein großer Fehler, nur Qualitätsmanager allein als verantwortlich zu betrachten. Qualität muss von allen im Unternehmen getragen werden, nur mit diesem gemeinsamen Bewusstsein gelingt es. Eine Qualitätsmanagerin kann nicht hinten zusammenräumen, was in den Kernprozessen nicht funktioniert hat.

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