Donnerstag, Oktober 03, 2024

Trotz einiger Schönheitsfehler soll das vermeintliche Jobwunder Reindustrialisierung nach dem Vorbild der USA auch die europäische Wirtschaft beleben. Doch die Vorzeichen sind hier andere.

Die Krise macht's möglich: Die klassische Produktion wird wieder geschätzt. Dienstleistungsgesellschaft war gestern, das neue Rezept für den wirtschaftlichen Aufschwung heißt Reindustrialisierung. Die USA machten es vor – die US-Wirtschaft startete mit Elan durch und holte sogar gegenüber China auf, während die EU sich immer mehr in Krisen verhedderte.

Seit Jahrzehnten geht in Europa die produzierende Industrie zurück. Automatisierung, spezialisierte Fertigung und niedrigere Lohnkosten führten zu einer massiven Verlagerung, insbesondere nach Asien. Schon 2012 forderte EU-Kommissar Antonio Tajani eine »dritte industrielle Revolution«. Bis 2020 soll der Anteil der Industrie auf 20 % des BIP gehoben werden. Schmutzige Fabriken also statt Denker und Dienstleister? Bisher verlief die neue Strategie noch wenig erfolgreich: Seit der Erklärung der EU-Kommission nahm der Industrieanteil sogar um einen Prozentpunkt auf 15 % ab. Das EU-Ziel liegt in weiter Ferne.

Forschung als Motor

Nur in fünf Ländern – Deutschland, Österreich, Niederlande, Litauen und Slowakei – ist der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung seit 2007 gestiegen. Im Rest Europas, vor allem in den großen Ländern Frankreich, Italien und Spanien, vollzog sich ein Schwenk zur Deindustrialisierung. Rund 3,8 Millionen Industriearbeitsplätze gingen in der EU verloren.

Großbritannien zog inzwischen die Notbremse. Ein eigens eingerichteter Forschungsfonds soll die klassische Industrie ankurbeln, gleichzeitig wird in ein Comeback der englischen Autoindustrie inves­tiert. Spätestens 2018 sollen wieder zwei Millionen Fahrzeuge in Großbritannien vom Band laufen. 13 Forschungseinrichtungen, sechs Designzentren, acht Formel-1-Teams und zahlreiche große Hersteller haben sich auf der Insel angesiedelt. Produziert wird allerdings vorwiegend für deutsche und japanische Marken, in britischer Hand ist kaum noch eines der Unternehmen im Automobilsektor. Die Regierung kümmert das wenig: Zwischen 2000 und 2014 brach die Zahl der Beschäftigten in Großbritannien um 35 % ein, weit stärker als im EU-Schnitt (minus 18 %). Jedes Mittel ist nun recht, um das Reindustrialisierungsprogramm anzutreiben und neue Arbeitsplätze zu schaffen. 500 Autozulieferer im Land bekommen künftig Unterstützung. Die Warwick University, eine der besten Hochschulen der Welt, ist eng mit der Wirtschaft verknüpft. Unternehmen mit Sitz in Großbritannien können für Forschungsprojekte am dort angesiedelten Advanced Propulsion Center (APC) öffentliche Fördergelder beantragen. Namhafte Hersteller wie Jaguar Land Rover entwickeln gemeinsam mit dem APC neue Technologien.

Österreich steht mit einem Industrieanteil von 18,7 % am BIP vergleichsweise gut da. Mit knapp 2,5 Millionen Beschäftigten generiert der servoindustrielle Sektor – Sachgüterproduktion, Bau- und Energiewirtschaft sowie industrienahe und produktionsorientierte Dienstleistungen – nach Angaben der Industriellenvereinigung rund 60 % der gesamten Wertschöpfung in Österreich.

Abschied von Europa

In einzelnen Industriesparten, insbesondere in der Stahlbranche, stehen jedoch in den nächsten 15 Jahren »massive Veränderungen« bevor, sagte Voestalpine-Chef Wolfgang Eder in einem Interview mit der Kleinen Zeitung: »Die einfachen Stahlprodukte wird man aus Kostengründen in Europa nicht mehr produzieren. Europa wird rund 60 % seiner Stahlerzeugung verlieren.« In China, Indien, Brasilien und sogar in der Türkei sei die Produktion »unvergleichlich günstiger«. Dazu kämen bürokratische Hürden: Die Voest­alpine errichtet derzeit in Texas eine riesige Direktreduktionsanlage zur Produktion von Eisenschwammbriketts, eigener Hochseehafen, Kraftwerk und Bahnverbindung inklusive. Diese Investition von 550 Millionen Euro wäre in Österreich gar nicht umsetzbar, meint Eder: »Ich glaube nicht, dass wir überhaupt eine Bau- und Betriebsbewilligung in überschaubarer Zeit bekommen würden. Außerdem hätten wir jährlich um 200 Millionen Euro höhere Betriebskosten.« Die Hälfte der Produktion deckt den Bedarf der Standorte Linz und Donawitz. Hochseefrachter bringen Rohstoffe nach Texas bzw. die fertigen Pellets nach Europa.

Produziert man für den amerikanischen Markt, komme es oft günstiger, »gleich in den USA zu bauen und nicht von Asien aus zu verschiffen«, meint Harold L. Sirkin, Senior Partner der Boston Consulting Group. Auch durch den flexibleren Arbeitsmarkt konnten die USA aufholen. Während die Löhne in China jährlich um 15 bis 20 % stiegen, stag-nierten die Arbeitskosten in den USA oder sanken sogar teilweise. Der Kostenvorteil Chinas schrumpft kontinuierlich. Allerdings produzieren die USA immer noch 75 % der Konsumgüter im eigenen Land – eine Basis, auf die Europa nicht bauen kann.

Klimaziele untergeordnet

In den Jubel mischen sich auch kritische Stimmen. Denn gleichzeitig mit dem Bekenntnis zur Reindustrialisierung verkündete die EU-Kommission eine Akzentverschiebung: Der Klimaschutz müsse künftig hinter wirtschaftliche Ziele an die zweite Stelle rücken. Mit dem im Oktober 2014 beschlossenen Klima- und Energiepaket hatten sich die EU-Mitglieder zur Reduktion der CO2-Emissionen um mindestens 40 % bis 2030 verpflichtet. Abgeschwächt wurde hingegen das Energieeffizienzziel von 30 auf 27 %. Der Anteil der erneuerbaren Energien aus Wind und Sonne soll auf mindestens 27 % steigen.

Fracking – die Gewinnung von Erdgas aus Schiefergestein – weckt hingegen auch bei einigen EU-Vertretern Hoffnungen. Bei der Förderung wird unter hohem Druck ein Gemisch aus Wasser und Chemikalien in den Boden gepresst, dabei kann auch das Trinkwasser verunreinigt werden. Die umstrittene Technologie löste in den USA durch die niedrigeren Gaspreise den jüngsten Wirtschaftsboom aus. In Europa ist die Förderung  aus technischen Gründen schwieriger, schon allein, weil tiefer gebohrt werden muss. Trotz vehementer Proteste mehrerer Fraktionen im EU-Parlament, allen voran der Grünen, hatte sich die EU-Kommission Anfang 2014 grundsätzlich für die Gewinnung von Schiefergas aus, wenn ein »angemessener Umwelt- und Klimaschutz gewährleistet« sei. 

Im Rückwärtsgang

Und wie das hochgelobte Beispiel USA zeigt, war der Höhenflug nur von kurzer Dauer. Die US-Industrie steckt seit November 2015 in einer Flaute. Die Produktion wurde deutlich gedrosselt, die schwächelnde Weltwirtschaft und der starke Dollar macht dem Industriesektor zusätzlich zu schaffen.

Bei genauerer Betrachtung der Daten des Bureau of Labor Statistics (BLS) über den US-Arbeitsmarkt ist die Reindustrialisierung der USA ohnehin nicht die große Erfolgsgeschichte, als die sie gerne verkauft wird. Zwar entstanden in den Südstaaten neue Autofabriken, diese waren aber zuvor aus dem Norden der USA abgesiedelt, um dem starken Druck der dort gut organisierten Gewerkschaften auszuweichen. Auch Boeing verlagerte 2011 aus diesem Grund die Fertigung des Dreamliners nach South Carolina. Die Stammwerk blieb weiterhin in Seattle. In der von der Regierung subventionierten »grünen« Industrie kamen tatsächlich Arbeitsplätze dazu – jedoch auf Staatskosten. Ab 2017 wird die Förderung für kommerzielle Solarenergie-Projekte von 30 auf 10 % gekürzt und für Privatpersonen komplett gestrichen. Experten rechnen mit einem deutlichen Einbruch des Solarmarktes.

Unterm Strich gingen in den Jahren 2002 bis 2012 rund 3,3 Millionen Industriearbeitsplätze verloren. Die seit 2010 grassierende Fracking-Euphorie hätte sich zumindest am Ende dieser Zeitspanne niederschlagen müssen. Der seit 35 Jahren anhaltende kontinuierliche Rückgang der Industriearbeitsplätze in den USA konnte somit auch durch die Reindustrialisierungs-Offensive nicht gebremst werden: 1980 waren noch knapp 20 Millionen Menschen in produzierenden Unternehmen tätig, heute sind es nur noch 12 Millionen. Allerdings stieg die Bevölkerungszahl inzwischen von 227 Millionen auf 320 Millionen. Bis 2022 prognostiziert das BLS einen jährlichen Rückgang von weiteren 0,5 %, das wären nochmals 550.000 Arbeitsplätze weniger. Neue Jobs erwartet die US-Behörde vorwiegend in den Dienstleistungsbereichen Bildung, Freizeit und Gesundheit – nicht aber in der Industrie. Für nachhaltige Reindustrialisierung braucht es eben mehr als nur billiges Gas und Öl.

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