Donnerstag, Dezember 12, 2024

Angesichts der Flüchtlingsströme nach Europa überlegen immer mehr Staaten, auch an den Binnengrenzen zu anderen EU-Mitgliedsländern wieder dauerhaft Pass- und Zollkontrollen einzuführen. Das Schengener Abkommen wäre damit de facto aufgekündigt, der europäische Binnenmarkt passé. Laut einer Studie der deutschen Prognos AG wäre Österreich aufgrund der zentralen Lage besonders betroffen, bis 2025 könnte ein Schaden von bis zu 43 Milliarden Euro entstehen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sieht zudem den Euro in Frage gestellt: Ohne Reisefreiheit und Freizügigkeit der Arbeitnehmer brauche man auch keine gemeinsame Währung. Report(+)PLUS hat drei Experten nach ihrer Einschätzung gefragt.

1.Welche Folgen hätte die Wiedereinführung von Grenzkontrollen?

Klaus Weyerstraß, Privatdozent für Makroökonomie und Öffentliche Finanzen am Institut für Höhere Studien (IHS)

Es kommt vermehrt zu Staus mit Zeitverlusten für Pendler, Touristen und Straßengütertransporte. Dies verursacht zusätzliche Kosten, die zum Teil auf die Preise überwälzt werden und zum Teil die Erträge der Unternehmen schmälern. Die Staus verursachen außerdem Umweltbelastungen. Zudem fallen Kosten für die Grenzkontrollen selbst an, also für die Entlohnung von zusätzlichen Polizisten und anderen Grenzbeamten. Über einen längeren Zeitraum bestehende Grenzkontrollen würden die internationale Aufteilung der Wertschöpfungsketten grundsätzlich in Frage stellen.

Christian Mandl, Leiter der Stabsabteilung EU-Koordination der Wirtschaftskammer Österreich



Der wirtschaftliche Schaden ist jetzt schon beträchtlich. Unseren Schätzungen zufolge würden mindestens 1,2 Mrd. Euro an zusätzlichen Kosten allein im Warenverkehr entstehen. Auch der Tourismus würde gro­ßen Schaden nehmen, sollte Schengen außer Kraft gesetzt werden. Die Hintergründe: Just-in-time-Lieferungen werden durch aufwendige Grenzkontrollen stark erschwert. Die Wartezeiten an den Grenzen sind für die Betriebe nicht kalkulierbar, die Lenkzeiten für Chauffeure werden oftmals überschritten. Eventuell besteht auch die Notwendigkeit, Auslieferungslager im Zielland zu schaffen – das betrifft insbesondere die (Kfz-)Zulieferindustrie. Tagestourismus in grenznahe Schigebiete oder auch Kurzreisen zu Kulturzwecken würden stark zurückgehen.

Gabriel J. Felbermayr, Professor am Ifo – Institute for Economic Research an der Universität München

Personenkontrollen an den europäischen Binnengrenzen wären ärgerlich: Sie kosten die Logistikbranche, Pendler und Touristen wertvolle Zeit. Im Durchschnitt müsste man – wie z.B. an den Grenzübergängen der USA mit Kanada – mit 20 Minuten Wartezeit rechnen. Nach unseren Schätzungen wirkt das wie ein Zoll von 0,5 %. Wenn nur auf den Flüchtlingsrouten kontrolliert würde, kostet der Rückgang des Handels dem Durchschnittsösterreicher zwischen 11 und 30 Euro. Das ist überschaubar, wäre aber vermeidbar, wenn nur die Schengen-Außengrenzen gut kontrolliert würden.


2.Welche Branchen oder Regionen wären besonders betroffen?

Klaus Weyerstraß

Besonders betroffen wären das Speditionsgewerbe und alle Branchen, die stark auf die internationale Arbeitsteilung und Just-in-time-Lieferung setzen; dies ist besonders die Automobilindustrie. Außerdem schaden Grenzkontrollen dem Export und Import verderblicher Waren, da dort der Zeitverlust an der Grenze die Frische beeinträchtigt. Auch der Tourismus wäre negativ betroffen. Vor allem in den grenznahen Regionen würden Tagestouristen ausbleiben, und z.B. in der Region östlich von Wien sowie in Salzburg und Tirol in der Nähe zu Bayern würden sich die Fahrtzeiten für Tagespendler erhöhen.

Christian Mandl

Letztlich sind – direkt oder indirekt – weite Teile der Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen. Massiv betroffen ist schon jetzt die Transportwirtschaft. Sie befürchtet zusätzliche Kosten von bis zu 8,5 Mio. Euro pro Tag, wenn das Schengen-Abkommen gänzlich aufgehoben ist. Besonders beeinträchtigt ist auch der Tourismus: Bereits jetzt gibt es zwischen 10 % und 30 % weniger Tagestouristen in manchen Skigebieten Westösterreichs. Sollten die Wartezeiten weiter steigen, würde die Zahl der Tagestouristen weiter absacken.

Gabriel J. Felbermayr

Besonders betroffen wären Branchen, die zeitsensible Produkte herstellen, wie z.B. frische Lebensmittel, oder Bereiche mit extrem durchgetakteten Logistik­ketten. Letzteres ist vor allem für die wichtige Kfz-Zulieferindustrie der Fall. Auch Güter, deren Wert relativ zu den Transportkosten eher gering ist (z.B. Biomasse), würden nicht mehr grenzüberschreitend gehandelt. Kurztrips über die Grenze, ob zum Shopping oder zum Skifahren, würden seltener. Insgesamt wären grenznahe Regionen stärker betroffen als grenzferne.


3.Ist eine Verlagerung des Frachtverkehrs von Straße auf Schiene zu erwarten?

Klaus Weyerstraß

Grenzkontrollen verändern die relativen Preise zwischen dem Güterverkehr auf der Straße und auf der Schiene. Ob es dadurch zu Verlagerungen des Transports auf die Schiene kommt, hängt davon ab, wie lange die Grenzkontrollen bestehen bleiben und wie hoch die zusätzlichen Kosten tatsächlich sind. Das Beispiel Schweiz zeigt, dass allgemein höhere Kos­ten des Transports auf der Straße sehr wohl zu Verlagerungen auf die Schiene beitragen, sofern das Schienennetz gut ausgebaut ist. Nur kurzzeitige Grenzkontrollen würden aber wohl keine grundlegenden Verlagerungen auslösen.

Christian Mandl

Dort, wo es realisierbar und wirtschaftlich ist, erfolgt ja bereits jetzt diese Verlagerung, große Umschichtungen sind eher nicht zu erwarten. 1:1 von der Straße auf die Schiene ist aber logischerweise unmöglich. Einerseits, weil es eben nicht überall Schienen gibt. Andererseits, weil die Schiene schon jetzt oft an der Grenze ihrer Kapazität fährt – mehr ginge vielerorts gar nicht mehr.

Gabriel J. Felbermayr

Wenn die Kontrollen als nur vorübergehend wahrgenommen werden, wird sich nicht viel ändern. Wenn die Wirtschaft davon ausgehen muss, dass die Personenkontrollen langfristig Bestand haben, wird sie sich anpassen: Die Logistiknetzwerker werden wieder regionaler, der Verkehr wird stärker auf die Schiene, aber auch auf Flugzeuge oder Binnenschifffahrt verlagert. Viel hängt davon ab, ob die entsprechende Infrastruktur – z.B. LKW-Spuren, automatisierte Abfertigung, etc. – geschaffen wird, wie sie auch in Nordamerika existiert.

 

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