Donnerstag, Oktober 03, 2024

Die Menschheit steht technologisch in der Tat am Beginn eines neuen Zeitalters. Industrie 4.0 trifft auf Gehirn 1.0 – das ist die andere Seite des digitalen Umbruchs, in dem wir uns heute befinden.

Ein Gastkommentar von Herbert Strobl.

Die digitale Transformation übertrifft alles Dagewesene an Entwicklungen hinsichtlich Schnelligkeit, Reichweite und gesamthafter Wirkung. Neue, kaum mehr überblickbare Geschäftsmöglichkeiten entstehen mit exponentiellen Steigerungsraten und werden auch wieder genauso schnell durch andere disruptiv ersetzt. Entwicklungsgeschichtlich sind wir in unserer inneren Verfasstheit jedoch immer noch viel, viel näher beim Faustkeil und am Lagerfeuer als bei Mikrochip und virtueller Realität. Was wiegen 50 Jahre Hightech gegen 500.000 Jahre Großhirnentwicklung oder gar 250 Millionen Jahre Entwicklungszeit des limbischen Systems im Gehirn? Damit Digitales selbst zum Funktionieren gebracht werden kann, braucht es auch heute noch immer ganz viel Analoges, nämlich den menschlichen Faktor, insbesondere wenn es um Kooperation und Führung geht.

Im heutigen Informationszeitalter gelten allerdings andere Erfolgsfaktoren als noch im Industriezeitalter. Die Treiber von heute sind Innovationskraft, Wissen, Partnerschaft, Kundennähe und Agilität. Deshalb gehört die Zukunft nicht der Abteilungs-, sondern der Netzwerkorganisation, die sich entlang der Kundenprozesse selbst organisiert.

Die Fähigkeiten, laufend innovativ und kreativ zu sein, flexibel und rasch zu agieren und komplexe Zusammenhänge zu erkennen, werden zu entscheidenden Erfolgskriterien. Darauf muss Führung heute vermehrt Rücksicht nehmen. Statt strikter Hierarchie braucht es heute mehr denn je vertrauensbasierte Kooperation von interdisziplinären Teams, denn Innovation erfordert zwingend eine Kultur des Experimentierens und des wechselseitigen Vertrauens.

Vertrauen geht auch Hand in Hand mit einer innovationsfreundlichen Fehlerkultur: Werden Mitarbeiter für Fehler bestraft, nehmen riskante Entscheidungen ab und Innovation lahmt. Überall dort, wo Kreativität notwendiger Teil des Geschäftsmodells ist, ist eine Kernfunktion von Führung, Zusammenarbeit zu organisieren und interne Vernetzung zu ermöglichen. Führungskräfte sind dann keine peitschenschwingenden Anweiser mehr, sondern haben idealerweise das Selbstverständnis eines »Enablers«  – fast wie ein Gastgeber auf einer Party, der Sorge dafür trägt, dass die Anwesenden gut im Gespräch bleiben – und eines Coachs, der durch stimulierende Fragen Anreize schafft, dass Personen in einer Organisationseinheit ihre eigenen Problemlösungskapazitäten mobilisieren können. Das ist jedoch nicht mit hierarchieloser Beliebigkeit oder Laissez-faire zu verwechseln: Gerade, wenn autonomes Handeln gefördert und auch eingefordert wird, braucht es ex ante klar kommunizierte Spielregeln über das generelle Miteinander und ausreichend Bewusstsein über die eigenen kulturellen Besonderheiten.

Laut einer von Cap Gemini im Frühjahr 2017 durchgeführten globalen Studie (The Digital Culture Challenge: Closing the Employee-Leadership Gap) sehen 62 % der Unternehmen die bestehende Unternehmenskultur als das größtes Hindernis auf dem Weg zu einer Organisationsform, die dem digitalen Zeitalter angepasst ist. Offensichtlich gibt es eine Kluft zwischen digitalem Anspruch aus dem Geschäftsmodell und der analogen Realverfassung in einer Organisation.


Der Autor: Herbert Strobl ist Managementberater und Entwicklungsbegleiter mit Schwerpunkt auf Führung, Veränderung und Unternehmenskultur. Er verfügt über 20 Jahre Führungserfahrung in internationalen Konzernen und arbeitet seit vielen Jahren als systemischer Unternehmensberater.

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