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Das Werkzeug um Maschinen zu verstehen

Foto: In Systemen müssen die Komponenten unterschiedlicher Bereiche sicher miteinander funktionieren. Foto: In Systemen müssen die Komponenten unterschiedlicher Bereiche sicher miteinander funktionieren. Foto: iStock

Als Hidden Champion der heimischen Softwarebranche ist LieberLieber Software mit seinen spezialisierten Produkten hauptsächlich international erfolgreich. Die Kunden: Fahrzeughersteller und Rüstungsindustrie.

Vielleicht liegt es daran, dass Zitronen in unseren Breitengraden  nicht für den klassischen Obstanbau taugen. Von diesem Produkt aus Österreich haben wohl noch nicht viele gehört: »LemonTree«. Denn mit saurem Geschmack hat dieses Bäumchen nur bedingt etwas zu tun.

In das Entwicklungswerkzeug für die Industrie hat Peter Lieber, Gründer von ­LieberLieber Software, einiges an Aufwand und Kapital gesteckt. Die Arbeit hat sich ausgezahlt – das Produkt stößt weltweit auf großes Interesse. Die Zielgruppe: Systemingenieure. Nur: Die gibt es im deutschsprachigen Raum kaum. International, vor allem in den USA, ist das anders.

Das Konzept des »Systems Engineering« wurden bereits bei den Apollo-Programmen der Raumfahrtindustrie umgesetzt und früh auch in der Rüstungsindustrie – überall dort, wo komplexe Systeme bereichs- und herstellerübergreifend funktionieren müssen. Produkte wie LemonTree heben die Entwicklung von Technik auf eine neue, abstrakte Ebene von Standards und Modellen. Diese dienen dazu, beispielsweise Schnittstellen zwischen einzelnen Komponenten in Systemen zu beschreiben und diese auch zusammenzuführen.

»Mittlerweile haben wir in allen Bereichen der Wirtschaft mit komplexen Systemen zu tun, die ein Systems Engineering erfordern«, ist Daniel Siegl, Geschäftsführer von LieberLieber Software, überzeugt. Auch Smartphone-Hersteller setzen darauf, ebenso die Autohersteller. Für autonomes Fahren wird sogar rechtlich vorgeschrieben, zunächst valide Modelle von

Fahrzeugsystemen zu erstellen und zu prüfen – noch lange bevor überhaupt Prototypen gebaut werden. »So wie ein Architekt zunächst den Plan eines Hauses zeichnet, werden auch technische Systeme geplant«, vergleicht der Wiener. Seine Babys – oder besser: die Babys seiner Unternehmenskunden – werden »Cyber-physical Systems« genannt: Maschinen im weitesten Sinne, die aus Hardware, Elektronik und Software bestehen. Also alles vom Mobiltelefon bis zum Kraftwerk.

Aber auch diese Systementwicklung, eng damit verwandt auch die Softwareentwicklung, dreht sich weiter. Wurden früher Systeme rein textbasiert beschrieben, macht es die schiere Größe heute unmöglich, sie Zeile für Zeile darzustellen. Die Entwicklerszene hat sich dazu auf eine eigene Sprache geeinigt, die UML – Unified Model Language. Mit ihr lassen sich die Zusammenhänge von Prozessen und Daten grafisch unterstützt dokumentieren.

Bestes aus zwei Welten

Das Know-how der Softwarespezialisten von LieberLieber liegt nun in der modellbasierten Software- und Systementwicklung auch auf Basis von gängigen Werkzeugen wie »Enterprise Architect« des australischen Softwareherstellers SparxSystems. LieberLieber vertreibt das Tool in Europa und liefert auch gleich ein Servicegeschäft dazu. Doch: Die Graphen dieser Werkzeuge haben einen Nachteil. Sie lassen sich prinzipiell schwer vergleichen.

Das ist aber notwendig, wenn verschiedene Teile zusammengeführt werden sollen – etwas, was die Industrie ebenfalls benötigt. Denn mit sogenannten »Feature Branches« wird eine isolierte, modulare Entwicklung von Funktionalitäten möglich. Zu einem Produkt, wie etwa einem Smartphone, können dann einzelne Verästelungen aus der Softwareentwicklung hinzugenommen werden – oder eben auch weggeschaltet. Das benötigt nun wieder das reibungslose Andocken der Module aneinander, im Fachjargon als »Merging« bezeichnet.

Hier kommt nun die Eigenentwicklung LemonTree ins Spiel. Aus einer gemeinsamen Forschungsarbeit mit der TU Wien hat das LieberLieber-Team das kommerzielle Produkt geschaffen. Es setzt bei Werkzeugen wie Enterprise Architect an und lässt Graphen vergleichen und zusammenführen.

Dass den Wienern damit ein regelrechter Glücksgriff gelungen ist, zeigt sich am internationalen Verkaufserfolg von Japan bis Amerika. Der Zitronenbaum aus Öster­reich ist die weltweit einzige kommerzielle Modellierungslösung, die auch mit Git funktioniert, einem modernen Werkzeug für die Versionsverwaltung von Software. Eine gute vierstellige Zahl an Usern in deutlich mehr als hundert Betrieben setzt auf die Lösung.

Die Kernmärkte der Wiener sind die Fahrzeugindustrie in Bereichen wie autonomes Fahren und Elektrifizierung des Antriebs, ebenso wie Rüstungskonzerne. Derzeit gibt es Gespräche mit der amerikanischen Raumfahrtindustrie, die Satelliten und Raumsonden fertigt. In einer Umgebung wie dem Weltraum kann technisches Gerät schlecht vorab getestet werden. Fehler treten mitunter erst nach Jahren auf – ohne Möglichkeit von Reparaturen. Also müssen Systeme und Software doppelt, dreifach, vierfach ausfallssicher und resilient gebaut sein.

Beherrschen des Codes

Auf der Straße ist die modellbasierte Entwicklung ebenfalls der letzte Stand der Technik geworden. Setzt ein Autohersteller nicht darauf, gilt dies bei Unfällen bereits als grob fahrlässig. Die Spitzenmodelle der deutschen Automobilindustrie haben über 200 Millionen Zeilen Softwarecode in ihrem Inneren verpackt. Sachverständige haben hier längst die Übersicht zu den Abläufen im Auto verloren, aus auftretenden Störungen können die Hersteller aufgrund der Komplexität kaum noch lernen – gäbe es nicht die Modelle, Graphen und Diagramme des Software Engineering. Auch ein Airbus hat bereits gut 30 Millionen Zeilen Code.

»Das ist kaum zu bewältigen«, weiß Siegl. Tests im Realbetrieb sind bei diesen Codeumfängen nicht mehr möglich. Zu viele Möglichkeiten gäbe es, zu viele Zustände, die eintreten können. Also tes­ten zunehmend die Planer und Entwickler Maschinenverhalten in Simulatoren – wieder anhand von Modellen, an Features, die zusammengeführt werden.
Daniel Siegl erklärt die Herausforderungen anhand von zwei Beispielen. Wie sich ein Fahrzeugsystem in einer kritischen Situation verhält – die Rückfahrkamera ist aktiviert, gleichzeitig kommt ein Telefonanruf über das Bordsystem herein – wird von den Herstellern unterschiedlich gehandhabt.

»Manche schalten automatisch auf stumm. Andere geben die Option, den Anruf anzunehmen.« Ein anderes Beispiel betrifft Schienenfahrzeuge, die in der Regel mehrere Türen haben – mit Tür-Controllern für die Steuerung, Notfalleinrichtungen und einem übergeordneten System des Waggons. All diese Teile müssen miteinander fehlerfrei kommunizieren und funktionieren. Mit dem Modellieren der Schnittstellen der Komponenten der verschiedenen Hersteller können Problemfelder bereits in der Simulation entdeckt werden.

Es sind Unternehmen wie VW, Hilti, und Hirschmann, die das geniale Tool im Einsatz haben. LieberLieber macht allein in Japan ein Vielfaches an Umsatz im Vergleich zu Österreich. Es ist das typische Schicksal eines Hidden Champions. »Oft sind wir bei einem Konzern bereits international im Einsatz, bekommen aber hier in Österreich nicht einmal einen Gesprächstermin«, berichtet Siegl. Trotzdem hat man sich einen Namen in der Szene aufgebaut. Das Team ist auf Konferenzen präsent und gut vernetzt.

»Hersteller wollen in ihren komplexen Szenarien den Überblick bewahren und sicherstellen, dass in ihrer Entwicklung vor allem die sicherheitsrelevanten Anforderungen nachvollziehbar in Modellen abgebildet sind«, schließt Siegl.
Der Bedarf wird wohl weiter steigen – mit der Vernetzung unserer Welt, dem Internet of Things, Datenhunger von Applikationen und automatisierten Prozessen.

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