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»Wir sind für alle Lebensweisen und Arbeitsmodelle offen«

»Wir sind für alle Lebensweisen und Arbeitsmodelle offen«

Tausende Wohneinheiten und Arbeitsplätze bunt gemischt – im Norden Wiens, dem einstigen Wohnbezirk Donaustadt, wird derzeit eines der größten und modernsten Stadtentwicklungsprojekte Europas durchgezogen. Warum »aspern Seestadt« auch international für Interesse sorgt und welche Zutaten für den richtigen Mix nötig sind, verrät Gerhard Schuster, Vorstandsvorsitzender der Wien 3420 aspern Development AG.

(+) plus: Wie ist der Status quo der Bevölkerungszahl und die Zahl der Arbeitsplätze in der Seestadt Aspern? Und wo wollen Sie hin?

Gerhard Schuster: Derzeit sind rund 2.500 Menschen auf dem Gebiet der aspern Seestadt beschäftigt. Die Wohnbevölkerung beträgt mit aktuell 7.250 rund das Dreifache. In den nächsten zwei Jahren wollen wir eine Wohnbevölkerung von bereits 10.000 erreichen und rund 5.000 Arbeitsplätze haben. Im finalen Ausbau bis 2030 sollen dann deutlich mehr als 20.000 Menschen in der Seestadt leben, mit einem Potenzial von bis zu 20.000 Arbeitsplätzen – wenn die Wirtschaft sich weiter so positiv entwickelt.

(+) plus: Wie ist das Interesse der Wirtschaft, sich hier anzusiedeln? Welche Argumente können Sie dafür liefern?

Schuster: Für kleinere Unternehmen ist es zum Beispiel die spezielle Qualität in der Verbindung von Wohn- und Betriebsstandort oder die Möglichkeiten der Zusammenarbeit untereinander – auch mit neuen Formaten wie Co-Working-Spaces oder kombinierten Wohn-Ateliers. Das kommt bereits sehr gut an.

Die größeren Büroflächen werden jetzt erst in den kommenden Monaten angeboten. Hier sind wir noch beim Informieren. Die Interessenten kommen, weil es etwas zu mieten gibt. Die Mietpreise für die neuen, topausgestatteten Büroflächen werden mehrheitlich zwischen elf und 15 Euro pro Quadratmeter liegen. Die Betriebskosten sind vergleichsweise niedrig, da die Gebäude natürlich auch energie- und klimatechnisch optimiert sind.

(+) plus: Das Interesse, wie mit größeren Stadtentwicklungsprojekten umgegangen werden soll, ist europaweit groß. Sie waren mit dem Megaprojekt Seestadt auch bei der Urban Future Global Conference Ende Mai in Oslo vertreten.

Schuster: Wir waren bereits zum dritten Mal bei der Urban Future Global Conference, diesmal auch mit einem Stand mit unseren Partnern SES Spar European Shopping Centers – die gemeinsam mit uns das Nahversorgungskonzept in der Seestadt entwickeln und managen – und der Aspern Smart City Research. Die ASCR entwickelt moderne Energiekonzepte und begleitet diese mit Forschungstätigkeiten, um intelligente Energiesysteme für Städte zu schaffen.

In Oslo haben wir mit dem aspern.mobil LAB auch ein Forschungsprojekt vorgestellt, das uns hilft, Mobilitätslösungen im Sinne eines zukunftsfähigen »Modal Split« zu entwickeln. Hier geht es um Fragen, wie welche Transport- und Verkehrsbedürfnisse mit umweltschonenden öffentlichen Verkehrsmitteln abgewickelt werden können, wie Menschen zu Fuß und mit dem Rad – mit oder ohne Elektromobilität – unterwegs sein können und wo nach wie vor das Auto gebraucht wird. Wir hatten wieder sehr gute Diskussionen in Panels, mit Entwicklern, Kommunalpolitikern und Innovatoren.

(+) plus: Welche Fragen kommen dazu bei Politikern und den Verwaltungen auf?

Schuster: Meist steht zunächst die Fragestellung im Vordergrund, ob Projekte von der Stadt selbst, also der lokalen Verwaltung, oder privatwirtschaftlich – etwa von Immobilienentwicklern – vorangetrieben werden sollten. Sind für bestimmte Projekte Public-private-Partnership-Modelle hilfreich oder eher ungeeignet? Oft geht es darum, wie Bewohner oder Anrainer bei Projekten eingebunden werden können und wie auf deren Bedürfnisse bestmöglich Rücksicht genommen werden kann. Ist das demokratisch überhaupt beherrschbar oder ist es einfach zu viel gewollt? Letztlich suchen viele auch nach bestehenden Lösungen, um diese auch in andere Städte und Regionen zumindest teilweise zu übertragen.

(+) plus: Was ist Ihre unmittelbare Antwort darauf? Eignet sich das Seestadt-Modell nun für eine Übertragung?

Schuster: Es gibt schon Rahmenbedingungen, die wir beschreiben können, die eine Umsetzung an anderer Stelle erleichtern. Dann aber gibt es gewisse Dinge, von denen wir wissen, dass sie auf gar keinen Fall eins zu eins übertragbar sind. Bei großen Stadtentwicklungsprojekten liegt freilich vieles im Detail. Es kommt immer auf die richtige Mischung an. Wir laden dazu auch in die Seestadt ein und bieten eine Plattform für den Austausch mit unseren Partnern. Mitunter entstehen dann daraus auch Folgeprojekte und Kooperationen. Natürlich können auch wir von anderen lernen, und wir prüfen Lösungen, die anderswo gut funktionieren, um sie bei uns einzuspielen.

Der Faktor Größe ist sicherlich das wesentliche Unterscheidungsmerkmal bei solchen Projekten. Ob etwa 500 Wohnungen oder, wie in aspern, im Endausbau über 11.000 Wohneinheiten errichtet werden, hat schon großen Einfluss auf begleitende Maßnahmen und den Ausbau von Infrastruktur.

(+) plus: Wie etwa die Verlängerung einer U-Bahn-Linie. Ist das der zentrale Faktor, der die Seestadt so besonders macht – oder ist es der Wohnbau? Was lässt sich nicht auf andere Städte übertragen?

Schuster: Ich sehe hier drei Dinge. Zum einen haben wir in Wien eine lange Tradition des geförderten Wohnbaus, der nicht an bestimmen Stellen konzentriert ist, sondern möglichst dispers verteilt. Das verhindert eine Ghettobildung und Satellitenstädte, ebenso wie das Entstehen von »Gated Communities«. Natürlich gibt es auch in Wien gewisse Abstufungen in den Bezirken, aber die Durchmischung ist im internationalen Vergleich außergewöhnlich gut und von einer hohen Qualität. Sie müssen das auch im Kontext einer Millionenstadt sehen, die wellenartig Entwicklungsphasen mit einer großen Dynamik – sowohl im Wachstum als auch in der Schrumpfung – durchlaufen hat.

Das zweite ist die hohe Qualität des öffentlichen Verkehrsnetzes. Dieses weiter auszubauen, ist wichtig, war aber in aspern letztlich aufgrund der Dimension, der Bevölkerungszahl und Beschäftigten möglich. So etwas bringt Auslastung und rechtfertigt den Bau eines Hochleistungsverkehrsmittels.

Drittens verfolgen wir in dem Stadtteil ein konsequentes Mischnutzungskonzept der Bereiche Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Bildung und Forschung. Auf diese größtmögliche Mischung der Typen und auch Wohnformen richten wir unsere Detailplanung und auch unsere Partnerschaften aus. Ein Beispiel ist eine Sammelgarage im Seeparkquartier, in der Erdgeschoßflächen zur Nutzung für die Community zu Verfügung stehen.

Eine zweite große Sammelgarage, die derzeit in Fertigstellung ist, wird auf ihrem Dach fünf Soccer-Felder bieten. Im Kellergeschoß wird es für Bewegungshungrige einen Trampolin-Park geben. Vor dieser Garage gibt es dann eine gemischt genutzte Einheit mit Geschäfts- und Informationsflächen. Wichtig ist auch die Infrastruktur für das Aufladen von Elektroautos.

(+) plus: Wie sieht diese Durchmischung in der Praxis heute aus – und was wollen Sie innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre erreichen?

Schuster: Wir haben die erste Phase, die vom geförderten Wohnbau geprägt ist, weitgehend über die Bühne gebracht. Einen ausgewogenen Gesamtmix mit freifinanzierten Eigentums- und Mietwohnungen und deutlich höheren Anteilen an Büro- und Geschäftsflächen wird es mit Fertigstellung des Seeparkquartiers geben. Weiters schaffen wir Raum für sonstige Dienstleistungen und Nutzungsarten – Fitnesscenter und Hotels etwa.

Mit dieser weiteren Mischung der Bautypen und der Bereiche Arbeit und Wohnen, ebenso mit einem neuen Bildungscampus sowie dem Projekt Campus der Religionen wird die Inklusion vorangetrieben. Diese gibt es bereits auch in der ersten Bauphase mit der Eingliederung von Wien Work mit Ausbildungsplätzen für unterschiedlichste Handwerks- und Dienstleistungsberufe – für Jugendliche ebenso wie für Langzeitarbeitslose und Menschen mit Behinderungen. Inklusion ist ein zentraler Punkt auch im Wohnangebot. Die Jugend ist dank der über 700 Wohnplätze in Studentenheimen sehr stark vertreten.

Und schließlich haben wir das Glück, über 200 Wohneinheiten in verschiedenen Baugruppen zu haben, deren Bewohner sich bei der Gestaltung involvieren und Gemeinschaftseinrichtungen wirklich aktiv nützen – und auch schaffen. Andernorts werden solche Gemeinschaftsangebote oft kaum genützt, weil die Moderation und die Kultur dazu nicht gefördert werden.

Mit Hoerbiger haben wir bereits einen international tätigen Konzern mit mehr als 500 Arbeitsplätzen und einer eigenen Forschungsabteilung vor Ort. Das Technologiezentrum Seestadt der Wirtschaftsagentur Wien bietet Innovations- und Digitalisierungsschwerpunkte. Für das Genussquartier suchen wir Betriebe, die einen Beitrag zur Lebensqualität in der Seestadt und einer umweltfreundlichen Produktion von Lebensmitteln leisten und dies etwa auch mit Schaubetrieben der Gemeinschaft zeigen.

(+) plus: Unternehmen, die sich in der Seestadt ansiedeln, lassen sich also bewusst auf den offeneren Zugang und das Konzept der Durchmischung ein?

Schuster: Wir versuchen schon, dies zu kommunizieren – damit alle, Bewohner ebenso wie Unternehmenspartner wissen, was sie hier erwartet. Wir zwingen aber niemanden, aktiv mitzugestalten oder sich zu vernetzen. Wer bisher schon sein Leben oder sein Büro geführt hat, wie er es wollte, wird das auch hier auf die gleiche Weise tun können. Partizipation ja – aber nur für die, die es wollen. Wir sind für alle Lebens- und Arbeitsmodelle offen.

Wer möchte, kann sein Raumangebot für Dritte öffnen. In der Bandbreite vor Ort sind auf der einen Seite ein Schulbetrieb, der den Turnsaal oder die Aula beispielsweise für eine Ausstellung öffnet, und am anderen Ende Industriebetriebe, für die das niemals in Frage kommen wird. Wir versuchen jedenfalls die Unternehmen an die Grenzen dessen heranzuführen, was für deren Betrieb noch nützlich ist und nicht stört. Ein Technologieunternehmen mit Betriebsgeheimnissen werden wir nicht zu einem Open-House-Konzept überreden können. Das ist ja auch richtig so.

(+) plus: Wer auf PKW oder LKW angewiesen ist, dem fehlt in der Seestadt eine gute Anbindung an ein übergeordnetes Straßenverkehrsnetz. Wann wird es hier Abhilfe geben?

Schuster: Wir haben ja bereits eine durchgeplante und weitgehend behördlich genehmigte Verkehrsinfrastruktur mit der Anbindung an die S1 und A23 in Aussicht, die innerhalb der nächsten Jahre kommen wird. Damit wird diese Lücke geschlossen sein.
Der reine Personenverkehr ist sowohl für Wiener Verhältnisse als auch im internationalen Vergleich mit der U-Bahn, der S-Bahn  sowie der Binnenverkehrsqualität hervorragend erschlossen. Mit den Öffis sind Sie vom Westen Wiens, von Meidling oder dem Hauptbahnhof innerhalb von 17 bis 30 Minuten in der Seestadt. Künftig wird man mit Schnellbahntaktung innerhalb von 30 bis 35 Minuten im Zentrum Bratislavas sein. Das ist unschlagbar.

(+) plus: Wie wichtig sind Kommunikations- und Vernetzungsplattformen in der Seestadt?

Schuster: Sie sind essenziell und müssen – das haben wir auch gesehen – immer auch analog passieren. Es braucht die Ausgewogenheit.

Wir nehmen Partizipation, Vernetzung und Inklusion sehr ernst. Unser Stadtteilmanagement kümmert sich nicht nur um die BewohnerInnen, sondern bietet auch Vernetzungsmöglichkeiten für Betriebe. Wer möchte, kann an einem Unternehmerstammtisch teilnehmen, es gibt auch Expertise für die Vermittlung von Arbeitskräften und Arbeitsplätzen. So arbeitet auch abz*austria im Stadtteilmanagement mit. Eines ihrer Themen ist der barrierefreie Zugang zu Arbeitsplätzen auch für Männer und Frauen mit Kinderbetreuungspflichten.

Wir finanzieren das Stadtteilmanagement gemeinsam mit der Stadt Wien, auch weil wir damit Inklusion fördern können. Vorrangig gibt es dazu Kooperations- und Informationsplattformen für nachbarschaftliche Hilfen und für Angebote Dritter.

(+) plus: Wie erreichen Sie generell die Menschen mit so komplexen Themen wie Smart City oder Energieeffizienz?

Schuster: Wichtig ist, die Konzepte und Vision einer modernen Stadt und vernetzter Gebäude tatsächlich greifbar zu machen. Das ausgeklügelte Klimatisierungskonzept des Technologiezentrums Seestadt ist ein ausgezeichnetes Beispiel. Die ASCR zeigt wiederum die Sensorik und Vernetzung in den Gebäuden und den Energienetzen in der Planung, im Bau und im Betrieb anhand von konkreten Beispielen.

Im gewerblichen ebenso wie im privaten Bereich gibt es hier sehr unterschiedliche ASCR-Testbeds und Nutzer. Die echten Technikbegeisterten wollen rund um die Uhr ihre Wohnung und elektrischen Geräte optimieren – andere wiederum wollen sich damit überhaupt nicht beschäftigen. Sie haben vielleicht bestimmte Erwartungen, die sie artikulieren, geben das Thema Energie aber weiterhin an den Netzbetreiber und Energieversorger ab.

Moderne Systeme sollten nach Möglichkeit die gesamte Breite dieser Interessenlagen abdecken. Daraus lernen die Forscher der ASCR viel für zukünftige urbane Modelle – und wir bauen die Erkenntnisse wiederum in unsere weiteren Planungen ein.

Seestadt Aspern

- Eines der größten Stadtentwicklungsprojekte Europas.
- 240 Hektar Gesamtfläche – das entspricht etwa der Größe des ersten Wiener Gemeindebezirks.
- Neubauten mit einer geplanten Bruttogrundfläche von mehr als 2,6 Mio. m².
- Gesamtinvestitionsvolumen von rund fünf Milliarden Euro.
- Ein neuer, multifunktionaler Stadtteil mit mehr als 11.000 Wohneinheiten und Flächen für Büros, Produktions- und Dienstleistungsunternehmen, Wissenschaft, Forschung und Bildung.

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