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Zwischenrufe aus Übersee

Wie ein Europäer den Alltag an der US-amerikanischen Ostküste erlebt.
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Eigensinn mit Tradition

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Westminster in Maryland ist bekannt für seinen Eigensinn. Dinge passieren hier etwas schneller –und vor allem anders: Was sein soll und was nicht, wird hier eigen definiert.

Westminster in Maryland ist eigentlich ein typisches Ostküstenstädtchen mit 18.590 Einwohnern, das in manchen Dingen allerdings Maßstäbe setzt. Nirgends ist das Internet schneller. Ein Gigabit-Glasfasernetz, das zusammen mit dem Provider TING 2015 aktiv geschaltet wurde, sorgt für eine Spitzenposition bei der technischen Infrastruktur. Wie alle Modernen legen die Einwohner von Westminster auch Wert auf Tradition. Seit 1868 wird hier eine Memorial-Day-Parade abgehalten, die mittlerweile zur ältesten des ganzen Landes zählt. Man gedenkt der Gefallenen des Bürgerkrieges, schließlich haben sie in Westminster für Lincoln und gegen die Sklaverei gekämpft – für eine gerechte Sache also und da ist man kompromisslos.

Als der Zeitungsherausgeber Joseph Shaw 1865 in seinem Editorial Lincoln kritisierte, war Schluss mit lustig. Der aufgebrachte Mob zerstörte die Druckerpressen und vier Männer nahmen sich den Autor vor, was dieser nicht überleben sollte. Die Täter wurden vor Gericht gestellt und glatt freigesprochen. Im Urteil hieß es, es sei ein reiner Akt der Selbstverteidigung gewesen. Zwischen Tat und Urteil lag freilich das Attentat auf Lincoln, was dazu beitrug, dass die Geschworenen die Sache nicht ganz wertfrei sahen.

Recht ist interpretierbar und in Westminster wird es in einer ganz speziellen Weise interpretiert. Am 10. März 2006 protestierten Mitglieder der Westboro Baptist Church vor dem Friedhof von Westminister gegen die »Unterwanderung« des Militärs durch Homosexuelle. Die Gruppe hielt Schilder hoch, auf denen zu lesen war: »Gott hasst Schwule«, »Ihr werdet in der Hölle schmoren« und »Amerika ist verflucht«.
Der Protest fand während des Begräbnisses von Matthew Snyder statt, einem homosexuellen Soldaten, der bei einem Unfall im Irak ums Leben gekommen war.

Der Vater des Toten ging vor Gericht und forderte Bußzahlungen für das ihm zugefügte emotionale Leid: »Sie haben aus dem Begräbnis meines Sohnes einen Medienzirkus gemacht und sie wollten meiner Familie weh tun. Sie wollten ihre Botschaften unter die Leute bringen und dabei war ihnen jedes Mittel recht. Mein Sohn sollte in Würde begraben werden, nicht gestört von einem Haufen von Clowns.«

Die Geschworenen und Richter Richard D. Bennett gaben dem verletzten Vater recht und verurteilten die konservativen Religionsfanatiker zu einer Schadenersatzzahlung von insgesamt 10,9 Millionen US-Dollar. In Westminster fand man, dass die verfassungsrechtlich garantierte Meinungsfreiheit Grenzen hat, die man nicht überschreiten darf. Die emotionale Entscheidung aus Westminster hatte aber vor dem Washingtoner Verfassungsrichter keinen Bestand. Chief Justice John Roberts schrieb das Urteil und befand: »Was die Protestierer sagten, im ganzen Kontext des Wie und Wo, steht unter dem speziellen Schutz der Verfassung und dieser Schutz kann nicht eingeschränkt werden von Geschworenen, die einen Protest verabscheuungswürdig finden.« Westminister verlor vor dem Höchstgericht, blieb aber der Gewinner der Herzen. Eigenwillige schaffen das.

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