Donnerstag, April 25, 2024



Carola Millgramm ist Leiterin der Abteilung Gas in der Regulierungsbehörde E-Control. Sie spricht über die gegenwärtige Situation am Gasmarkt, Alternativen zu Importen aus Russland und eine notwendige Solidarität auf europäischer Ebene.


Wie gestaltet sich derzeit die Situation am Gasmarkt mit dem Exporteur Russland?

Carola Millgramm: In den letzten Wochen ist das Gasangebot aus Russland immer weiter reduziert worden. Nord Stream 1 ist als Route, über die Gas konstant aus Russland in die EU geflossen ist, weggefallen. Man geht derzeit allgemein nicht davon aus, dass diese Pipeline in nächster Zukunft wieder in Betrieb gehen wird. In der Ukraine ist ein weiterer Entry-Punkt in das Transitsystem weggefallen und die Lieferungen nach Europa sind ebenfalls reduziert worden.

ENTSOG (Anm. Verband Europäischer Fernleitungsnetzbetreiber für Gas) hat berechnet, dass der Anteil von russischem Gas in der EU tatsächlich nur noch 9 % beträgt – gegenüber fast einem Drittel des Gesamtmarktes in den letzten Jahren. Deutschland hat sämtliches russisches Gas aus Russland über Nord Stream 1 bekommen – und erhält derzeit im Grunde überhaupt kein Gas aus Russland.

Welche Auswirkungen erwachsen darauf für Haushalte und Wirtschaft in Österreich?

Millgramm:
Die Gasversorgung ist derzeit gesichert, da es ja witterungsbedingt noch einen niedrigen Gasverbrauch gibt. Massive Auswirkungen sehen wir aber bei den Preisen. Sie sind direkt vor den ungeplanten Instandhaltungsmaßnahmen Russlands für die Nordstream 1 Ende August auf 300 Euro und mehr pro MWh angestiegen und liegen derzeit wieder bei unter 200 Euro pro MWh. Da bedeutet natürlich eine enorme Belastung für alle. Bei den Haushaltskunden schlagen diese Preise vielleicht noch nicht zur Gänze durch, der Aufwärtstrend hat sich aber auch auf Terminprodukte durchgeschlagen. Sie liegen für nächstes Jahr bei rund 220 Euro pro MW, was eine weitere Steigerung der Energiekosten bewirken wird.

Die hohen Gaspreise bringen auch andere Probleme mit sich, wie etwa bei den Liquiditätsrahmen von Marktteilnehmern. Überall dort, wo Vorfinanzierungen oder Sicherheiten notwendig sind, kommt die Liquidität von Unternehmen unter Druck – bei Wien Energie vor Kurzem, aber tatsächlich auch bei anderen Akteuren im Marktsystem. Die gestiegenen und volatilen Gaspreise sind eine Riesenherausforderung für das gesamte Gasmarktmodell.

Ist das Ziel der Reduktion von Gas aus Russland für Europa aus Ihrer Sicht sinnvoll – und auch die Sanktionen?

Millgramm: Ich denke, uns allen ist nicht bewusst gewesen, dass Energie in den letzten Jahren einfach viel zu günstig war. Man hat sicherlich auch manche Zeichen zu spät gesehen, so etwa die Leerstände der Speicher der Gazprom nach dem Sommer 2021. Erst jetzt ist vielen klar geworden, was das die Abhängigkeit von günstigem Gas aus Russland in Zeiten von Konflikten bedeutet. Die Sanktionen der EU sind eine notwendige Reaktion auf den Angriffskrieg auf die Ukraine und sie haben klarerweise auch Auswirkungen auf Österreich.

Man muss trotzdem in einer solchen Situation auch eine Chance sehen. Die EU-Mitgliedstaaten und Österreich im Besonderen sind wirtschaftlich starke Länder, die nun eine Unabhängigkeit von russischem Gas viel schneller schaffen werden, als in den Jahren der günstigen Energie zuvor. Trotzdem wird diese schnelle Umstellung sehr viel kosten. Deswegen braucht es zeitlich begrenzte Maßnahmen zur Abfederung, wie sie ähnlich auch bei der CO2-Besteuerung vorgesehen sind.

In welchem Zeitraum ist eine Unabhängigkeit von russischem Gas für Österreich realistisch?


Millgramm: Wir sehen schon jetzt Bemühungen, andere Transportrouten stärker zu nutzen – wie etwa aus Italien und Deutschland mit beispielsweise Reverse-Flow-Möglichkeiten auf der italienischen Route. Bei der Ausschreibung der strategischen Reserve haben Unternehmen bereits auch nichtrussisches Gas angeboten. Tatsächlich kann die Reduktion unseres Importanteils aus Russland sogar schneller geschehen, als wir denken. In einem ersten Schritt wird der Ausbau der dafür nötigen LNG-Kapazitäten (Anm. „Liquefied Natural Gas“) in der EU rund zwei bis drei Jahre dauern.

LNG wird eine große Rolle in der Gasversorgung zugesprochen. Allein die nötige Infrastruktur für die Verteilung fehlt im großen Stil.

Millgramm: In Europa gibt es bereits einige LNG-Anladeterminals und es sind zusätzlich Ausbauten geplant, beispielsweise eine Erweiterung des Gate-Terminals in den Niederlanden oder fünf FSRU (Anm. „Floating Storage and Regasification Unit“, stationäre schwimmende LNG-Terminals mit Regasifizierungsanlagen) in Deutschland. Zum Teil sollen sie an jener Stelle eingesetzt werden, an der Nord Stream 1 ankommt. Man könnte damit bestehende Netzkapazitäten nutzen, zum Beispiel die OPAL-Leitung, die durch Deutschland nach Tschechien geht.

Wenn wir in Österreich die LNG-Terminals in Deutschland und in Nordeuropa nutzen wollen, sind wir aber stark davon abhängig, was im deutschen Gasnetz passiert. Die Flüsse im deutschen Gasnetz verändern sich. So sind bereits die Lieferungen über die Jamal-Pipeline durch Polen weggefallen, jetzt auch die Lieferungen aus der Nordstream. In Deutschland werden daher Investitionen zur Ermöglichung der Änderung der Gasflüsse getätigt werden müssen. Wir sind hier sehr stark auf eine gute Koordination der Netzbetreiber auf deutscher und auf österreichischer Seite angewiesen.

In den letzten Jahren waren auch die Kosten von LNG ein Thema in der Marktdiskussion. Das ist nun wohl Vergangenheit.

Millgramm
: Grundsätzlich haben wir auch im Gasmarkt einen Grenzpreis, der durch das teuerste Angebot, nämlich LNG bestimmt wird – ähnlich der Merit-Order-Diskussion bei Strom. Wir brauchen diese Preissignale, da Europa auch in einem Wettbewerb mit anderen Regionen mit LNG steht. Hier einzugreifen wäre nicht sinnvoll. LNG ist eine wichtige Quelle für uns geworden und hat laut ENTSOG mittlerweile mit ungefähr 36 % den größten Anteil im Gasangebot in der EU.

Welcher Leitungsausbau ist in Österreich notwendig?

Millgramm: Die Transportkapazitäten in Oberkappel an der österreichisch-deutschen Grenze als Teil der West-Ost-Route werden jetzt noch stärker nachgefragt, wie auch in den jüngsten Auktionen zu sehen war. Für eine stärkere Nutzung dieser Route ist auf jeden Fall eine Erhöhung der Kapazitäten durch technische Adaptionen notwendig, die allerdings auch etwas Zeit brauchen wird. Jedenfalls könnten wir in Österreich auch die bestehenden Kapazitäten von derzeit sechs Milliarden Kubikmeter nach Italien nutzen.

Wir als E-Control waren immer darauf bedacht, notwendige Investitionen schnell zu genehmigen und Verfahren effizient zu gestalten. Wenn es technisch und ökonomisch sinnvolle Projekte gibt, die die Versorgungssicherheit erhöhen und Diversifizierung ermöglichen, sind wir bereit, sie auch schnell auf den Weg zu bringen.

Vor welchen Herausforderungen steht Österreich bei der Nutzung der bestehenden Erdgasspeicher insbesondere in Haidach – und auch die E-Control als Behörde?

Millgramm: Dass die Speicher letztes Jahr nicht befüllt werden konnten, hat gezeigt, dass uns als Behörde die Hände gebunden waren. Im Speicherbereich wurde anders als im Transport immer darüber diskutiert, ob auch dort das „Use it or lose it“-Prinzip sinnvoll ist. Gerade Speicher sollen ja flexibel nutzbar sein. Es wurde immer sehr kritisch gesehen, mit Vorgaben in die Speichernutzung einzugreifen, falls ein Speicher kurzfristig nicht genutzt wird. Jetzt haben wir durch eine Änderung des Gaswirtschaftsgesetzes die Möglichkeit bekommen, bei einer längerfristigen, strategischen Nichtnutzung regulatorisch einzugreifen. Der Speicherkunde verliert dann seine Nutzungsrechte, die Dritten unverzüglich zur Verfügung gestellt werden müssen. Wenn das Speicherunternehmen dies nicht durchführt, kann es das Recht als Speicherunternehmen verlieren. Dies wurde dann für den Speicher Haidach auch über einen Bescheid erwirkt, der gesetzlich vorgesehen war – die Gazprom-Tochter GSA hat ihre Stellung als Speicherunternehmen für den Gasspeicher in Haidach verloren. Speicherunternehmen ist jetzt die RAG Energy Storage und der Speicher Haidach wird nun auch wieder gefüllt.

Auf deutscher Seite wurden ähnliche Schritte bei Astora und mit Gazprom Germania gesetzt, die unter die Treuhandverwaltung der Bundesnetzagentur gestellt wurde. Es wurde dort ebenso schnell reagiert. Wir werden damit in Haidach wieder einen hohen Speicherfüllstand voraussichtlich bis Mitte November erreichen.

Der Speicher Haidach und der Speicher 7fields werden auch für Bayern genutzt. Über das bayrische Netz werden auch Tirol und Vorarlberg versorgt. Auch deswegen ist für uns wichtig, dass die Gasversorgung in Bayern gesichert ist.

Abgesehen von der Vernetzung der Regulierungsbehörden und auch der Energiewirtschaft untereinander – koordinieren sich die Staaten auch auf politischer Ebene genügend eng im Energiemarkt?

Millgramm:
Auch bei uns in Österreich gibt es noch Unklarheiten, welche Maßnahmen zur Energiesicherung Deutschland bei einer Mangellage ergreift und wie wir davon betroffen sind. Und auch in Österreich wird ja über den Ablauf der Energielenkungsmaßnahmen diskutiert. Tatsächlich ist es nicht so einfach, wie sich das viele vorstellen. Es gibt eine Reihe von neuen Energielenkungsmaßnahmen, deren Zusammenspiel und Wechselwirkung durchdacht werden muss. In Deutschland ebenso wie in Österreich wurden Speichermengen eingekauft, die zu bestimmten Zeiten in den Markt kommen sollen, es gibt bestimmte Einkürzungslogiken für Großverbraucher, basierend auf durchgeführten Datenerhebungen.

Wir brauchen sicherlich noch einen stärkeren Austausch und Kommunikation über die gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen den EU Mitgliedstaaten in einer Gasversorgungsmangellage.

Österreich ist ein wichtiges Transitland in der europäischen Gaswirtschaft. Uns ist klar, dass es in einer Situation, in der wir auf Transite über andere Länder angewiesen sind, nicht klug wäre, Transite in andere Länder einzuschränken. Daher erwarten wir auch von unseren Nachbarstaaten, dass dies nicht geschieht.

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