Deflation: Was ist dran?

Die Entscheidung der EZB, die Leitzinsen weiter abzusenken, hat Bedenken über eine anstehende Deflation in der Eurozone wach gerufen. Mit einer Inflationsrate von im Oktober vorläufig nur noch 0,7% wird ein vier-Jahres-Tief erreicht, im Juli hatte sie noch bei 1,6% gelegen.


Nun ist das keine Deflation, die Preissteigerungsrate ist ja noch positiv. Allerdings muss von Disinflation gesprochen werden, die Preiszuwächse sinken – und zwar deutlich. In einigen Ländern der Eurozone an der südlichen Peripherie sind die Deflations-Anzeichen sehr viel deutlicher. So hat sich in Griechenland der Preisverfall im Oktober beschleunigt, der Konsumpreisindex steht jetzt auf einem 51-Jahres-Tief. Im Jahresvergleich sind die Preise um 2% zurückgegangen nach minus 0,1% im September. Eine positive Preisentwicklung gab es bei Alkohol und Tabak, nämlich um plus 3,5% – auch ein Krisenzeichen?

Der folgende Chart zeit die Preisentwicklung in wichtigen Ländern der Eurozone.

Sinkende Preiszuwächse rufen die Angst vor Deflation wach. Was steckt dahinter?

Der amerikanische Ökonom Irving Fisher hatte 1933 nach dem Börsenkrach 1929 die Theorie der Verschuldungs-Deflation formuliert. Er kam dabei zu dem paradoxen Schluss, dass je mehr Schulden die Wirtschaftssubjekte zurückzahlten, je stärker lastete die reale Schuldenlast auf der Gesamtwirtschaft und lähmte sie.

Der Mechanismus von Fisher darf nicht von bestimmten Voraussetzungen losgelöst werden, als da sind hohe Verschuldung und sinkende Preise von Waren, Dienstleistungen und Vermögensgegenständen. Das Zusammentreffen dieser Faktoren löst eine schwere Rezession aus. Der Vermögenswert, der mit dem Kredit beliehen wurde, verliert stark an Wert, die Zahlungen an die Bank bleiben aber gleich. Durch die hierdurch notwendige Auflösung von Krediten wird Nachfragepotenzial vom Schuldner auf den Gläubiger verschoben. Der Schuldner ist gewöhnlich stärker konsumorientiert als der Gläubiger, die rückläufige Gesamtnachfrage führt zu einem weiteren Absinken des Preisniveaus.

Die Prozess verstärkt sich selbst – ist er einmal angelaufen, gibt es kaum wirksame fiskalische und geldpolitische Instrumente, ihn zu stoppen. Die Notenbank kann den Leitzins senken und so Kredite verbilligen. Die zu festen nominalen Zinsen bereits geschlossen Darlehensverträge werden dadurch jedoch nicht beeinflusst. Und wenn die Leitzinsen erst einmal nahe Null stehen, sinkt die Motivation der Banken, neue Kredite auszureichen, ebenfalls gegen Null, zumal sie eine steigende Anzahl von faulen Darlehen zu verkraften haben.

Fisher hielt eine „Reflation“, eine kontrollierte Anhebung des Preisniveaus, für den einzigen Ausweg aus dieser Deflationsspirale. Er hat auch untersucht, unter welchen Umständen es zur Ausbildung der Voraussetzungen für einen Schulden-Deflations-Prozess kommt und schrieb dies überbordendem Optimismus etwa als Folge technischer Neuerungen zu: Lukrative Investitionsmöglichkeiten lassen die Verschuldung quantitativ auf nicht tragbare Niveaus ansteigen und qualitativ übermäßig spekulativ werden – es kommt zum „Minsky-Moment“, in dem die Schuldenblase platzt.

Entscheidend ist auch, was letztlich den deflationären Prozess bedingt, die zweite Bedingung für die Fishersche Deflationsspirale. Eine Untersuchung der Bank of England legt nahe, dass deflationäre Schocks auf der Angebotsseite leichter zu verkraften sind als auf der Nachfrageseite.

2008 ließ ein historisch übermäßig hohes, noch dazu spekulativ finanziertes Verschuldungsniveau die US-Immobilienblase platzen und löste einen Schock auf der Nachfrageseite aus. Damit waren die klassischen Voraussetzungen einer Deflations-Spirale gegeben. Die Situation in Europa war vergleichbar, auch wenn der Schwerpunkt der Verschuldung nicht überall auf dem Immobiliensektor lag. Bedingt durch die europäische Gleichmacher-Politik spiegelten die Zinsen für Staatskredite nicht mehr die spezifischen Risiken wider, das hatte zu übermäßiger Staatsverschuldung der südlichen Peripherie geführt.

So weit die historischen Grundlagen für die auch fünf Jahre später noch bestehende Krisensituation.

Sinkendes Preisniveau in den Euro-Krisenländern ist nahezu der einzig mögliche Anpassungsmechanismus, wenn man die einheitliche Währung beibehält. Die interne Abwertung macht die Produkte der Krisenländer international wettbewerbsfähiger. Da diese Abwertung in erster Linie über den Arbeitsmarkt geht, sinkt gleichzeitig die kaufkräftige Nachfrage, es wird weniger importiert.

Ein wichtiger Grund für den geringen Preisauftrieb in der Eurozone liegt auch darin, dass die deutsche Politik bisher keinen nachhaltig expansiven Kurs fährt. Dieser würde die Anpassungsprozesse der Krisenländer im Eurozonen-Innenverhältnis erleichtern. Ein deutlich über 2% steigendes deutsches Preisniveau würde aber vermutlich nicht nur das eigene Exportgeschäft tangieren und damit die Linie, durch Handelsbilanzüberschüsse aus der Krise zu wachsen, torpedieren.

Die Schuldenlast wird mit sinkendem Preisniveau real größer. Da sich die Brüsseler Politik von einem sich weiter verschärfenden Austeritätskurs verabschiedet hat, müssen die Krisenstaaten im Interesse der Schuldentragfähigkeit nun nachhaltig bedeutende Primärüberschüsse erzielen. Die hierzu erforderlichen zusätzlichen Staatseinnahmen belasten die kaufkräftige Nachfrage und drücken damit tendenziell auf die Preise.

Zur real tendenziell höheren Schuldenlast kommt hinzu, dass das nominale Verschuldungsniveau in der Zwischenzeit kaum reduziert worden ist, wie der nachfolgende Chart (auch im internationalen Maßstab) zeigt.

In der Konsequenz wird das reale und das nominale Wachstum der Eurozone auf Jahre gering bleiben. Die EU-Kommission kam nicht umhin, dem kürzlich in ihrer Herbstprognose Rechnung zu tragen.

Zusätzlich gewinnt ein Punkt an Bedeutung, der mit der stark exportorientierten deutschen wirtschaftspolitischen Linie zusammenhängt. Klaus Kastner nimmt in seinem Griechenland-Blog (h/t Eurointelligence) einen Hinweis von DIW-Präsident Marcel Fratzscher auf, wonach Deutschland als Folge der jahrelangen Leistungsbilanzüberschüsse nun Vermögen in Höhe von fast 100% des BIP im Ausland akkumuliert hat (nach Bundesbank per Q2 Rekord bei fast 1202 Mrd. Euro netto, bzw. nahezu 44% des BIP). Damit entsteht in der größten Volkswirtschaft der Eurozone eine zunehmende Abhängigkeit von externen Entwicklungen, die vor dem Hintergrund einer eher schwächeren Basis im eigenen Land besonders schwer wiegt: Deutschland hat seit Start der Währungsunion im Jahre 1999 mit die geringsten BIP- und Produktivitätsfortschritte erzielt, die Reallöhne sind kaum gestiegen. Die Investionsquote zählt ebenfalls zu den Schlusslichtern, was die künftigen Wachstumsaussichten in einem ungünstigen Licht erscheinen lässt.

[Die Charts entstammen dem von Absolute Return Partners herausgegebenen Newsletter (November-Ausgabe)]

Die Keime für ein Anlaufen des Deflationsmechanismus sind nach wie vor vorhanden. Ein (externer) Schock dürfte sie schnell wieder aktivieren. Billionen an QE-Aktivitäten haben daran nichts geändert. Europa ist aus unterschiedlichen besonderen Gründen besonders anfällig.

Der von Absolute Return Partners herausgegebene Newsletter für November untersucht darüber hinaus, inwieweit die weltweiten QE-Maßnahmen zu “Euthanasie der Wirtschaft” führen. QE habe sich zwar wirksam gezeigt in der Unterdrückung der Krisensymptome, habe aber die Bankenindustrie von der Liquiditätsdroge abhängig gemacht, heißt es. Um das Wirtschaftswachstum wieder zu beleben und nicht in die japanische Deflationsfalle zu stürzen, sei eine gesunde Bank-Landschaft erforderlich. Hier müsse jetzt ein für allemal aufgeräumt werden.

 
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