Samstag, April 20, 2024

In der aktuellen Diskussion sollen Wohnungen vor allem leistbar sein. Was dabei oft vernachlässigt wird, ist die Wohnraumsoziologie. Die sorgt dafür, dass die Bausubstanz auch den tatsächlichen Anforderungen der Bewohner entspricht.

Von Karin Legat

Wohnpsychologische Aspekte werden im Bauwesen viel zu wenig berücksichtigt. Das ist die Kernaussage von Wohnpsychologen, Architekten, Baumeistern und Wohnrauminstituten. »Bei Wohnbauförderstellen und Bauträgern zählen Argumente wie Effizienz, Geld und Nachverdichtung«, kritisiert Robert Lechner, Geschäftsführer des Österreichischen Ökologieinstituts. Bauinnovation bedeutet für viele nur Material- und Produktneuheiten.

Der Energiefaktor ist zwar innovativ, »er befindet sich aber bereits im Bewusstsein der Menschen und wird Schritt für Schritt umgesetzt«, so Raimund Gutmann, Leiter von wohnbund:consult. »Wohnraumsoziologie, positive soziale Qualität, positive soziale Dichte und deren gesundheitliche Aspekte sind dagegen noch kaum ein Thema«, zeigt Lechner auf. Zur Umsetzung von Selbstorganisation, Selbsthilfe, neuen Netzwerken, Vergemeinschaftung verschiedener Alters- und Interessensgruppen sowie für den gesellschaftlichen Austausch auf einem modernen Niveau fordert Wohnpsychologe Harald Deinsberger-Deinsweger daher die Einbindung von Humanwissenschaftlern und Psychologen bereits in der Planungsphase von Wohngebäuden. »Lebensqualität muss vor Quadratmetermaximierung gehen«, ist Baumeisterin Renate Scheidenberger von Baukultur überzeugt.

Freud für das Bauwesen

Bedingt durch Landflucht, den Wandel der Familie und der Lebensstile werden immer mehr Einfamilienhäuser und große Wohnungen von Einzelpersonen bewohnt. »In Wien liegt der Singleanteil bei 50 Prozent. Selbst in kleineren Städten nimmt er bereits 30 bis 40 Prozent ein«, zeigt Gutmann auf. Nach Trennungen bleiben oft große Wohnflächen über, fehlende Flexibilität der Bewohner vereinfacht die Lage nicht. Sie fühlen sich verwurzelt oder können ihr Wohnumfeld wegen bestehender Kreditlasten nicht verlassen. Dies kann zu sozialer Vereinsamung und finanziellen Problemen führen. Innovatives Wohnen in Form flexibler, leicht veränderbarer und raumoffener Bauformen bietet eine zukunftsweisende Lösung für die Steigerung der Lebensqualität, Respekt vor Werten, interessantes Umfeld, kurze Wege, Vielfältigkeit sowie Orientierung nach unterschiedlichen Bedürfnissen. »Viele Bauträger haben bereits erkannt, dass hier ein eigener Markt entsteht«, betont Lechner und nennt das Forschungsprojekt ReHABITAT. Hier wird die Idee verfolgt, dass aus einem Ein- oder Zweipersonenhaus ein Mehrpersonenhaushalt mit getrennt begehbaren Wohneinheiten unter einem Dach, Start- und Singlewohnungen, betreutem Wohnen und Wohngemeinschaften entsteht. Jüngere Personen sind für diese Wohnform leicht zu begeistern, Ältere zögern noch, die Entwicklung ist aber positiv. »Bei einem Themen-Workshop hat eine ältere Dame erkannt, dass mit dem Gemeinschaftswohnen zahlreiche Vorteile für sie einhergehen. Sie kann sich ihre Mitbewohner aussuchen, bleibt selbstbestimmt, der finanzielle Aufwand wird gesplittet und sie hat immer eine/n Ansprechpartner/in. Das sind entscheidende Vorteile gegenüber dem Pensionistenheim«, so Lechner.

Wohnen auf der Schulbank

Soziale Aspekte gewinnen gegenüber Finanzmärkten mehr an Bedeutung. Bislang waren Architekten darauf angewiesen, nach eigenem Gespür zu agieren, weil das benötigte Wissen nicht bereitgestellt wurde. Heute gibt es das, es wird aber zu wenig gelehrt. »Soziologie muss als Unterrichtsprinzip gehandhabt werden. Raumpsychologie sollte sich in allen Projekten von Gender über interethnisch bis zu Wohnen mit Kindern durchziehen«, fordert Raimund Gutmann. Gute Ansätze gibt es laut Deinsberger-Deinsweger dafür an der TU Graz, der FH Kärnten sowie an der Donau-Universität Krems. Univ.-Prof. Christian Hanus, Leiter des Departments für Bauen und Umwelt an der Donau-Uni, bestätigt, dass die Bedeutung von Psychologie in der Baulehre noch unterschätzt wird. »Man ist sehr technisch fokussiert. Auf den Menschen wird dabei vergessen.« Dabei genügen schon viele kleine Faktoren für psychisches Wohlbefinden wie Farbgebung und die Anordnung der Zimmer. »Es ist falsch, das Gebäude ausschließlich funktional, ökonomisch und technisch zu betrachten«, betont Hanus und verweist auf das PhD-Programm »Raum und soziale Inklusion«, das im Herbst in Krems startet. »Hier arbeiten wir sehr eng mit Soziologen rund um biopsychosoziale Faktoren in der Raumentwicklung, im Bauwesen, der Baubewirtschaftung, der Bauerhaltung und der Baunutzung zusammen.«

Von der Schulbank in die Praxis

Wohnraumsoziologie ist nicht auf die Schulbank reduziert. Projekte wie die Seestadt Aspern in Wien beweisen das. Auf der Soziologieskala weit oben gereiht sind auch das Sonnwendviertel, der Nordbahnhof mit dem Wohnprojekt Wien und dem City Com 2-Projekt sowie die Sargfabrik. In Niederösterreich (Gänserndorf) wird das Cohousing-Projekt Lebensraum genannt, in Linz das Wohnobjekt Guglmugl. Auch Vorarlberg zeigt laut wohnbund:consult mit einigen verdichteten Wohnformen auf. Die Baumeister planen zunehmend sozial innovativ, Architekt Fritz Matzinger mit seinen Wohnhofbauten beweist das. »In meinen Seminaren merke ich, dass sich sowohl die angehende wie auch die praktizierende Bauwirtschaft in dieser Materie weiterbilden möchte«, berichtet Wohnpsychologe Deinsberger-Deinsweger. Für ein Flächenprojekt ist Raumsoziologie jedoch noch zu gering aufgestellt. Fördergeber und Baumeister sind zu wenig über die positiven Effekte von Wohnpsychologie informiert. Wohngruppen bilden auch eine rechtliche Herausforderung. »Das Förderrecht ist noch nicht darauf abgestimmt«, betont Robert Lechner. Gemeinschaftseigentum wird sich aber durchsetzen, schon aufgrund der Zwänge auf ökonomischer wie sozialer Ebene. Einen Push der neuen Baugeneration erwarten Experten durch Förderungen und Wettbewerb. Das Motto: Selbst der introvertierteste Mensch braucht Gesellschaft und der extrovertierteste Zeit und Raum für sich. »Diese Aspekte müssen bei jedem Wohnbauprojekt berücksichtigt werden,« so Deinsberger-Deinsweger.


Best Practise: Gemeinsam Wohnen am Nordbahnhof
Am Wiener Nordbahnhofgelände sind bereits einige innovative Wohnformen umgesetzt worden. Neben Wohngemeinschaften, interkulturellem Wohnen und Generationen-Wohnen sorgt vor allem das Projekt des Vereins »Wohnprojekt Wien« für Aufsehen. Im Mittelpunkt des Ende 2013 übergebenen Projekts steht die Idee, das Thema »Nachhaltigkeit weiter zu denken und zu leben«. Das reicht von der partizipativen Planung der Wohneinheiten und umfassenden Gemeinschaftsräumen bis hin zu ressourcenschonendem Baumaterial, Car-Sharing und einem eigenen Zeittauschsystem. Dafür stellt jeder Bewohner monatlich elf Stunden seiner Zeit für die Gemeinschaft zur Verfügung, sei es für Arbeitsgruppen oder einzelne Projekte. Zusätzlich gibt es spezielle Regelungen für Zeiten nach der Geburt eines Kindes oder bei besonderen beruflichen Belastungen einzelner Mitbewohner. Gelebt wird nach dem Prinzip der Soziokratie. Entscheidungen werden gemeinsam nach intensiven Diskussion getroffen. Wie wichtig der Gemeinschaftsgedanke ist, zeigt sich in vielen Bereichen. So ist etwa rund ein Viertel der Gesamtfläche für Gemeinschaftsräume reserviert, vom Kinderspielraum über eine Werkstatt bis zur Sauna. Einige Bewohner haben ihre Privatautos dem hauseigenen Carpool zur Verfügung gestellt und im Erdgeschoß hat vor einigen Wochen die hauseigene, nicht gewinnorientierte Greißlerei »Salon am Park« eröffnet. Betrieben wird der Salon von acht Gesellschafter, die neben ihren Brotberufen Zeit und Geld in das Projekt investieren.

Infos unter: www.wohnprojekt-wien.at

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